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Die zentrale Aufgabe der Verteidigung besteht jeweils darin, den genauen Pflichteninhalt in sachlicher und persönlicher Hinsicht zu eruieren, um einer übermäßigen Aufbürdung von Pflichten entgegenzutreten. Gerade hier besteht für Mandanten eine erhebliche Gefahr, indem im Angesicht einer Rechtsgutsverletzung ex post Pflichten konstruiert werden, durch deren Erfüllung es nicht zu einem Schadensereignis gekommen wäre.
aa) Beschützergarantenstellung
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Soweit die Garantenstellung ihren Grund darin findet, ein bestimmtes Rechtsgut vor Gefahren von außen zu schützen und die auf Leitungsebene angesiedelte Person insoweit gleichsam auf Posten gestellt ist, kann danach unterschieden werden, ob sich der Schutz vor im vermeintlichen Unternehmensinteresse begangenen Straftaten und Ordnungswidrigkeiten auf andere Mitarbeiter des Unternehmens (Schutz von Mitarbeitern vor Mitarbeitern) oder auf nicht zu dem Unternehmen zählende Personen bezieht.
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Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang eine Beschützergarantenstellung zugunsten der eigenen Mitarbeiter besteht, ist noch nicht abschließend geklärt. Zwar findet sich in § 618 BGB ein möglicher Ansatzpunkt, indem die allgemeine arbeitsrechtliche Fürsorgepflicht konkretisiert wird. Aus der dort statuierten Nebenpflicht kann jedoch nicht ohne Weiteres eine Garantenpflicht abgeleitet werden,[47] da zivil- und strafrechtliche Pflichtenkreise nicht deckungsgleich sind.[48] Sachlich mag für eine solche im Ausgangspunkt auf der arbeitsrechtlichen Fürsorgepflicht beruhende Beschützergarantenstellung allerdings sprechen, dass der Verweis auf bloße Schadensansprüche für den Betroffenen keinen ausreichenden Schutz bietet. Derjenige Mitarbeiter, der sich gegen ihn gerichteter Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten von Kollegen ausgesetzt sieht, ist auf den Schutz der Leitungspersonen angewiesen, zumal er sich der Zugriffe nicht durch Fernbleiben vom Arbeitsplatz entziehen kann.[49] Allerdings kommen auch insoweit Zurechnungsaspekte zum Tragen, indem zu klären ist, welche persönliche und sachliche Stoßrichtung die jeweilige Verpflichtung hat; konkret: Wer soll wovor geschützt werden?[50] Dementsprechend verneinte die Rechtsprechung in BGHSt 57, 42 ff. die Strafbarkeit eines Vorgesetzten, der sehenden Auges in Kauf genommen hatte, dass zwei ihm untergebene Arbeiter einen zu einer anderen Arbeitskolonne zählenden Mitarbeiter mobbten und wiederholt körperlich angriffen; eine dem Vorgesetzten obliegende Verpflichtung zur Unterbindung solcher Verhaltensweisen habe von vornherein nur zugunsten derjenigen Mitarbeiter bestehen können, für die er selbst verantwortlich war.[51]
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Geht es um den Schutz außerhalb des Unternehmens angesiedelter Personen, scheidet eine Beschützergarantenstellung im Allgemeinen aus. Sie kann auch nicht aus den Sorgfaltsklauseln des Bürgerlichen Rechts gestützt werden. Insbesondere gesellschaftsrechtliche Bestimmungen wie § 93 Abs. 1 S. 1 AktG; § 43 Abs. 1 GmbHG, die den Vorstand oder den Geschäftsführer einer Aktiengesellschaft oder Gesellschaft mit beschränkter Haftung auf die Sorgfalt eines „ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“ (§ 93 Abs. 1 S. 1 AktG) bzw. die „Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes“ (§ 43 Abs. 1 GmbHG) verpflichten, sind weder dazu gedacht noch geeignet eine Garantenstellung zu statuieren. Denn dieser Maßstab ist im Lichte von Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB, § 3 OWiG viel zu unbestimmt, um eine straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtliche Haftung zu legitimieren. Im Übrigen betreffen die Legalitätspflichten aus § 93 Abs. 1 S. 1 AktG; § 43 Abs. 1 GmbHG das Innenverhältnis zur Gesellschaft, nicht aber das Verhältnis zu außenstehenden Dritten.[52] Selbst wenn eine vertragliche Beziehung zwischen dem Unternehmensträger und dem außenstehenden Dritten besteht, kann dies nicht per se eine Garantenstellung begründen, da allgemeine vertragliche Verpflichtungen im Regelfall keine Garantenpflicht nach sich ziehen. Eine solche kommt nur dann in Betracht, wenn ein über das normale Maß geschäftlicher Beziehung hinausgehendes Vertrauenselement oder aber eine dauerhafte und enge Geschäftsbeziehung vorliegt.[53]
bb) Überwachergarantenstellung (Geschäftsherrenhaftung)
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Mit Blick auf den Schutz außenstehender Dritter ist vor allem bedeutsam, ob und inwieweit eine Überwachergarantenstellung im Sinne einer „Geschäftsherrenhaftung“ anzuerkennen ist, die sich darauf richtet, Straftaten und Ordnungswidrigkeiten von Unternehmensmitarbeitern zu unterbinden (siehe Rn. 458 f.). Eine solche Pflicht ist nicht nur wegen der Gleichsetzung von Personen- und Sachgefahren, sondern vor allem mit Blick auf den Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit begründungsbedürftig, da die Leitungsperson für das Verhalten einer voll verantwortlichen Person haftet.[54] Im Übrigen mag man kritisch sehen, dass ein solcher Haftungsansatz auf eine Kriminalisierung des in § 130 OWiG normierten Pflichtenprogramms hinausläuft, welches historisch aus einer verschuldensunabhängigen Polizeipflicht erwuchs – der Sache nach wird also eine Ordnungswidrigkeit in den Rang einer Straftat erhoben.[55] Gleichwohl ist eine Geschäftsherrenhaftung dem Grunde nach weithin konsentiert,[56] wobei unterschiedliche Begründungsansätze vertreten werden. Die Rechtsprechung hat sich bislang nicht zu einem Begründungansatz durchringen können, was insofern bedauerlich ist, als Reichweite und Grenzen von Pflichten erst bei Gewissheit über den eigentlichen Haftungsgrund bestimmt werden können.[57]
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Dieser wird zuweilen in der Organisationsherrschaft des Geschäftsherrn gesehen.[58] Hiergegen spricht weniger der Umstand, dass die Unternehmenswirklichkeit zunehmend durch heterarchische Organisationsstrukturen geprägt ist, die einseitigen Direktiven Grenzen setzt.[59] Denn auch heterarchisch strukturierte Unternehmen sind keineswegs durch ein beziehungsloses Nebeneinander verschiedener Einheiten, sondern stets auch durch top down erfolgende Steuerungsprozesse geprägt. Der Rekurs auf die Organisationsherrschaft ist jedoch deswegen problematisch, weil eine solche auf die Herrschaft der Leitungsperson gestützte Garantenstellung starke Anklänge an die in Unternehmenszusammenhängen problematische Figur der mittelbaren Täterschaft kraft Organisationsherrschaft aufweist, indem der Leitungsperson am Ende die Errichtung oder Beherrschung einer Organisation zur Last gelegt wird.[60] Anstatt auf Rechtspflichten zu rekurrieren, wirkt haftungsbegründend die Faktizität der Verhältnisse, was in der Tendenz mit Pauschalierungen einhergeht.[61]
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Vor diesem Hintergrund liegt es näher, den eigentlichen Haftungsgrund darin zu sehen, dass der Leitungsperson eine Verkehrssicherungspflicht zur Verhinderung der sich aus dem Unternehmenswirken ergebenden Gefahren obliegt; eine hierauf gestützte Garantenpflicht bildet das Korrelat zur Freiheit der unternehmerischen Betätigung.[62] Im Grunde wird damit an die Sachgarantenhaftung angeknüpft (siehe Rn. 150), die den Garanten nunmehr im Hinblick auf „Personengefahren“ zur Ergreifung von Maßnahmen in die Pflicht nimmt.[63] Teilweise werden Einschränkungen nach der Eigenart des Unternehmens gemacht; eine Verpflichtung soll danach nur in Bezug auf die Unterbindung „betriebsstypischer“ Gefahren bestehen.[64] Hieran ist zutreffend, dass es für die Bestimmung des Pflichteninhalts darauf ankommt, welche Freiheit der unternehmerischen Betätigung in Anspruch genommen wird, die nach Art des Betriebes unterschiedlichen Charakter haben kann. Allerdings treten bestimmte Betriebsrisiken ubiquitär auf, weshalb die Haftung nicht zu weit eingeschränkt werden darf. Daher wird man den Geschäftsführer eines Rüstungsunternehmens als verpflichtet ansehen müssen, nicht nur Verstöße gegen AWG-Bestimmungen zu verhindern, sondern auch gegen Korruptionspraktiken der Mitarbeiter einzuschreiten, obwohl Korruption kein Phänomen ausschließlich der Rüstungsindustrie ist.
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