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Fehlt es damit an der Rechtsgelöstheit als einer zentralen Voraussetzung für die Annahme von Tatherrschaft, folgt daraus zugleich die fehlende Fungibilität der Mitarbeiter, die trotz Einbindung in die Unternehmensorganisation nicht darauf reduziert sind, ein gleichsam mechanisches „Rädchen im Getriebe des Machtapparates“ zu sein.[19] Der tiefere Grund für das von Roxin propagierte Kriterium der Fungibilität liegt darin, dass erst die Austauschbarkeit des unmittelbar Handelnden die Tatherrschaft des Hintermannes begründet und die Durchbrechung des Verantwortungsprinzips legitimiert. Im Hinblick auf die Tatherrschaft kommt es erneut darauf an, ob die Unternehmensleitung durch Anweisungen beliebig Straftaten ablaufen lassen oder hemmen kann. Dies ist gerade nicht der Fall, sondern von den Mitarbeitern kann und muss eine sich an die Vorgaben des (Straf-)Rechts haltende Vorgehensweise erwartet werden; rechtswidrige Anweisungen dürfen notfalls nicht befolgt werden.[20] Fungibilität wäre nur gegeben, wenn es gar nicht mehr auf eine individuelle Entscheidung des Vordermannes ankäme, der rechtswidrigen Anweisung zu folgen, weil stets davon auszugehen wäre, dass er einer solchen Anweisung Folge leistet. Derart „mechanisch“ funktionieren moderne Unternehmen und ihre Mitarbeiter jedoch gerade im Hinblick auf heterarchische Organisationsformen und Compliance nicht.[21]
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Das weitere vom BGH vorgebrachte Argument, der Hintermann nutze „die unbedingte Bereitschaft des unmittelbar Handelnden aus, den Tatbestand zu erfüllen“, und wolle „den Erfolg als Ergebnis seines eigenen Handelns“, erscheint vor diesem Hintergrund ungereimt.[22] Auch wenn der Eingliederung in die Unternehmensorganisation eine kriminogene Wirkung zukommen kann (siehe Rn. 6 ff.), trägt dies für sich genommen nicht notwendig eine solche normative Folgerung. Ebenso wenig überzeugt die letztlich auf die subjektive Theorie zurückgehende Aussage, die Unternehmensleitung habe die Tat des Vordermannes als eigene gewollt.[23] Abgesehen davon, dass hierdurch auf ein sich objektiv manifestierendes Lenkungselement der Tatherrschaft verzichtet wird, löst eine solche Sichtweise die Beteiligungsdogmatik von jeglichem Tatbestandsbezug.[24] Hinter dieser Rechtsprechung steht (auch) unausgesprochen eine praktische Erwägung des Inhalts, dass auf den konkreten und prozessual schwierigen Nachweis der Gut- oder Bösgläubigkeit des Vordermannes verzichtet wird, die für eine normativ fundierte Tatherrschaft der Leitungsperson konstitutiv wäre.[25] Praktische Nachweisschwierigkeiten sind jedoch selten ein probates Instrument für die Beantwortung dogmatischer Fragestellungen.
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Letztlich läuft die Rechtsprechung darauf hinaus, den auf der Leitungsebene tätigen Personen nicht mehr das Handeln einzelner, sondern sämtlicher Mitarbeiter zuzurechnen, die auf untergeordneten Hierarchieebenen angesiedelt und in die Organisationsstruktur regelhafter Abläufe eingebunden sind. Dann aber geht es nicht mehr um die Zurechnung individueller Handlungen, sondern stattdessen wird das Unternehmenswirken im Ganzen der Leitungsebene zugeordnet, was mit dem Konzept individueller Schuld kaum in Einklang zu bringen ist.[26] Bezeichnenderweise verwendet der BGH in den letzten Jahren vermehrt den Begriff des Organisationsdelikts,[27] der den Kollektivcharakter der Unternehmenskriminalität unterstreichen soll. Aus dogmatischer Sicht stellt sich die Frage, ob sich hinter dem durch die Rechtsprechung immer wieder verwendeten Begriff des „Unternehmenshandelns“[28] nicht letztlich eine eigenständige Form der Täterschaft – Schünemann spricht von einem das gesamte bisherige Strafrechtssystem revolutionierenden „neuen Handlungsbegriff“ bzw. einen „systemischen Handlungsbegriff“ – verbirgt.[29] Oder geht es um eine Form der unmittelbaren Täterschaft, bei der lediglich die Voraussetzungen präzisiert werden, unter denen der Zurechnungszusammenhang nicht durch das Dazwischentreten Dritter in Gestalt der auf untergeordneten Hierarchieebenen angesiedelten Mitarbeiter unterbrochen wird?[30]
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Aus Verteidigungssicht wird man bei aller Kritik mit diesen vergröberten Zurechnungsmodellen zu rechnen haben, weshalb es entscheidend darauf ankommt herauszuarbeiten, ob die konkrete Handlung des auf untergeordneter Hierarchieebene angesiedelten Mitarbeiters tatsächlich Ausdruck der regelmäßigen Organisationsabläufe ist bzw. eine entsprechende Vorstellung von diesen Abläufen auf der Leitungsebene existiert. Im Übrigen wird es von zentraler Bedeutung für jede Verteidigung sein, immer wieder auf dem Gebot individueller Zurechnung zu insistieren und Argumente vorzutragen, die der in der Rechtsprechung angelegten Durchbrechung des Verantwortungsprinzips entgegenstehen. Abgesehen davon trägt letztlich die Strafjustiz die Begründungslast dafür, weshalb trotz volldeliktisch handelnden Vordermannes eine Zurechnung erfolgen soll. Begründungsbedürftig ist damit in erster Linie die Durchbrechung eines allgemeinen Haftungsprinzips und weniger das Festhalten an einem Prinzip.
b) Konstruktion über die Mittäterschaft nach § 25 Abs. 2 StGB
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Angesichts der Schwierigkeiten, eine Zurechnung über die mittelbare Täterschaft zu begründen, sind die Grundsätze der Mittäterschaft gem. § 25 Abs. 2 StGB zu erwägen, obwohl eine solche auf Gleichordnung basierende Konstruktion an sich nicht dem stärkeren Verantwortungsanteil des Hintermannes gerecht wird.[31] Allerdings wird hierbei die für diese Beteiligungsform zentrale Voraussetzung der gemeinsamen Tatausführung der Sache nach inhaltlich völlig entleert: Der Vorstandsvorsitzende einer weltweit tätigen Aktiengesellschaft führt eine Tat nicht „gemeinsam“ mit auf unteren Hierarchieebenen angesiedelten Mitarbeitern aus, es sei denn – aber das wäre eine eklatante Ausnahmekonstellation – es kommt zu einem konkreten Zusammenwirken.[32] Die weitere Voraussetzung des gemeinsamen Tatplanes ist ebenso wenig gegeben, da eine im Unternehmen installierte Anweisungskette etwas anderes ist als ein gemeinsamer Tatplan, der die einverständliche Avisierung eines deliktischen Gesamtprojekts unter Gleichen darstellt.[33] Teilweise wird sogar auf das Erfordernis eines gemeinsamen Tatplanes verzichtet, da die Zugehörigkeit zum Unternehmen eine objektive Bindung herstelle, die über die aus einer Absprache resultierende subjektive Bindung hinausgehe.[34] Dass derartige Bindungseffekte existieren, ändert jedoch nichts daran, dass das die Mittäterschaft kennzeichnende Zusammenwirken stets auf ein konkretes deliktisches Projekt bezogen sein muss. Ob eine gemeinsame Tatausführung vorliegt, kann im Übrigen nur beantwortet werden, wenn man weiß, welches deliktische Projekt gemeinsam geplant war; die objektiven und subjektiven Voraussetzungen der Mittäterschaft sind demnach ineinander verwoben. Der Verzicht auf einen gemeinsamen Tatplan führt schließlich dazu, dass die strafrechtliche Haftung entgrenzt wird und ein Exzess kaum noch denkbar ist, da prinzipiell jede Tat Folge der Einbindung sein kann.
c) Konstruktion über die Anstiftung nach § 26 StGB
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Vor diesem Hintergrund verbleibt im Vertikalverhältnis am Ende oftmals nur die Anstiftung nach § 26 StGB,[35] selbst wenn es unbefriedigend ist, eine auf der Leitungsebene angesiedelte Person lediglich als Rand- und nicht als Zentralfigur des deliktischen Geschehens einzustufen (siehe Rn. 61 ff.). Immerhin ist bei fehlender Rechtsgelöstheit und Fungibilität des Vordermannes nicht zwingend die Ausführung einer rechtswidrigen Anweisung gewährleistet, was für den Rückgriff auf die Anstiftung sprechen mag, die in den Grenzen der limitierten Akzessorietät auf einer eigenständigen Haupttat basiert. Der Einwand, dass es an einem kommunikativen Kontakt zwischen dem in der Unternehmensleitung angesiedelten Anstifter und dem auf unteren Hierarchieebenen angesiedelten Haupttäter fehlen soll,[36] überzeugt nicht, da diese Kommunikation über die Anweisung hergestellt wird und einseitige Kommunikationsverhältnisse ohne Weiteres vorstellbar sind. Auf die konkrete Anzahl zwischengeschalteter Personen kann es dabei nicht ankommen, wie im Übrigen schon die allgemein anerkannte Figur der Kettenanstiftung belegt.[37]
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