ff) Haftung für die Verletzung der Aufsichtspflicht nach § 130 OWiG
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Einen auf das Ordnungswidrigkeitenrecht bezogenen vertatbestandlichten Spezialfall der vertikalen Unterlassungshaftung regelt § 130 OWiG, bei dem es sich um einen eigenständigen Bußgeldtatbestand handelt (siehe auch Rn. 445 ff.).[111]
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Die Vorschrift ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens die sie treffenden Aufgaben in eigener Person oftmals nicht vollständig erfüllen können und sie daher im Wege der Delegation auf Mitarbeiter übertragen (siehe Rn. 74 ff.).[112] Wenn Mitarbeiter in einem solchen Fall eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begehen, ist angesichts des Auseinanderklaffens von Verantwortung (des Inhabers) und Verhalten (des Mitarbeiters) die Gefahr einer Sanktionslücke gegeben. Dies gilt gerade dann, wenn der Handelnde nicht zu dem in § 14 StGB, § 9 OWiG benannten Personenkreis zählt.[113]
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In diese Lücke stößt das echte Unterlassungsdelikt des § 130 OWiG, da die Verhängung einer Geldbuße gegen den Inhaber möglich wird, wenn er die ordnungsgemäße Erfüllung ihn selbst treffender Pflichten durch Mitarbeiter nicht sicherstellt und es deshalb zu einer Zuwiderhandlung kommt.[114] Die Norm ist deswegen von besonderer praktischer Relevanz, weil der Nachweis einer vorsätzlichen Aktivbeteiligung der Unternehmensleitung an Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten kaum jemals gelingt.[115] Eine Sanktionierung ist aus Sicht der Kontrollinstanzen oftmals nur über das mit spezifischen Nachweisschwierigkeiten behaftete (fahrlässige) Unterlassungsdelikt möglich.[116]
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§ 130 OWiG zielt nicht unspezifisch auf die Gewährleistung genereller Normkonformität,[117] vielmehr geht es um die Verhinderung konkreter Gefahren für jene Rechtsgüter, die in den einzelnen Tatbeständen des Straf- oder Ordnungswidrigkeitenrechts geschützt werden.[118] Dieser Schutz soll über die Statuierung einer bereits im Vorfeld installierten Aufsichtspflicht erfolgen.[119] Im Hintergrund steht das Motiv, dass derjenige, der zur Erfüllung eigener Pflichten Dritte einsetzt, sich deren Zuwiderhandlungen entgegenhalten lassen muss, wenn er selbst nicht alles Erforderliche und Zumutbare unternimmt, um Rechtsverstöße zu vermeiden.[120] Sofern der Inhaber selbst Beteiligter der Straftat oder Ordnungswidrigkeit ist, erübrigt sich der Rückgriff auf die subsidiär geltende Vorschrift.[121]
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Die besondere Relevanz der Vorschrift ergibt sich gerade im Zusammenspiel mit der Unternehmensgeldbuße nach § 30 OWiG, da § 130 OWiG eine Anknüpfungstat im Sinne dieser Vorschrift bildet (siehe Rn. 303 ff., Rn. 318 ff.).
(2) Inhaber eines Betriebes oder eines Unternehmens
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Täter können ausschließlich Inhaber eines Betriebes oder Unternehmens sein; die Vorschrift stellt ein Sonderdelikt dar. Als Betrieb wird die technisch-organisatorische, als Unternehmen die rechtlich-wirtschaftliche Einheit verstanden, wobei der Gesetzgeber einschränkungslos beides erfassen wollte . [122] Ob ein Konzern, namentlich eine Obergesellschaft, in Bezug auf die Untergesellschaft oder den Unternehmensverbund im Ganzen Inhaber im Sinne des § 130 OWiG sein kann,[123] ist einstweilen nicht abschließend geklärt, im Ergebnis aber abzulehnen.[124] Zwar mag es nahe liegen, der innerhalb eines Konzerns erfolgenden Verlagerung von Sanktionsrisiken auf Tochtergesellschaften entgegenzuwirken,[125] jedoch ist insoweit auf die allgemeinen Haftungsgrundsätze namentlich der Unterlassungshaftung abzustellen.[126]
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Für das Merkmal der Inhaberschaft kommt es darauf an, ob der Person die Erfüllung der unternehmensbezogenen Pflichten obliegt, während Aspekte wie Eigentümerstellung oder Kapitalbeteiligung irrelevant sind.[127] Die dem Inhaber als Normadressaten in dieser (nicht: privater)[128] Eigenschaft obliegenden Pflichten müssen auf Mitarbeiter übertragen worden sein, wobei das Spektrum denkbar weit ist: Erfasst werden Inhaber einer Fabrik, einer Wohnungsbaugesellschaft, einer Agentur, aber auch eines Krankenhauses sowie einer Arzt- oder Anwaltspraxis.[129] § 130 Abs. 2 OWiG stellt klar, dass auch öffentliche Unternehmen erfasst werden, da eine Schlechterstellung von Unternehmen der Privatwirtschaft verhindert werden soll. Die Unternehmensinhaberschaft ist ein besonderes persönliches Merkmal,[130] das unter den Voraussetzungen des § 9 OWiG auf Organe, Vertreter und Beauftragte übergewälzt wird, die damit zu tauglichen Tätern werden.
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Angesichts des das Ordnungswidrigkeitenrecht beherrschenden Einheitstäterprinzips (§ 14 OWiG) entfällt eine Differenzierung nach Art der Beteiligung.
(3) Unterlassen von Aufsichtsmaßnahmen, die zur Verhinderung von Zuwiderhandlungen gegen den Inhaber treffende Pflichten erforderlich und zumutbar sind
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Während früher streitig war, auf welche Pflichten sich § 130 OWiG bezieht,[131] werden nunmehr neben den aus Sonderdelikten resultierenden Pflichten auch solche aus Allgemeindelikten wie §§ 222, 229 StGB erfasst, sofern sie im engen Zusammenhang mit der Führung des Unternehmens stehen.[132] Um Rechtsverstöße der Mitarbeiter zu unterbinden, hat der Inhaber die zur Vermeidung von Rechtsverstößen erforderlichen und zumutbaren Aufsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Maßstab ist jene Sorgfalt, die von einem ordentlichen Angehörigen des jeweiligen Tätigkeitskreises erwartet werden kann.[133] Eine nicht abschließende Aufzählung denkbarer Aufsichtsmaßnahmen enthält § 130 Abs. 1 S. 2 OWiG (vgl. „auch“), indem das Gesetz auf „die Bestellung, sorgfältige Auswahl und Überwachung von Aufsichtspersonen“ verweist. Sofern dies zur Vermeidung von Rechtsverstößen nicht ausreicht, muss der Inhaber weitere Maßnahmen ergreifen, deren Reichweite von den Umständen des Einzelfalles abhängt.[134] Anhaltspunkte sind etwa: Größe, Organisation und Betätigungsfeld des Unternehmens; Vielfalt und Bedeutung der zu beachtenden Vorschriften; unterschiedliche Überwachungsmöglichkeiten; Umfang und Grad der Gefahren.[135] Allerdings ist der Maßnahmenkatalog nicht unbegrenzt, da § 130 OWiG über die Merkmale der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit eine Restriktion vornimmt, die Ansatzpunkte für Verteidigungsstrategien bieten. Erforderlichkeit bedeutet, dass die Maßnahme objektiv geeignet sein muss, als mildestes Mittel unternehmensbezogene Verstöße zu verhindern.[136] Dementsprechend folgt aus der Vorschrift keine Pflicht zu einer „flächendeckenden Personalkontrolle“, sondern nur das Ergreifen solcher Maßnahmen, die eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Unterbleiben unternehmensbezogener Verfehlungen bieten.[137] Die weitere Einschränkung, nach der die Aufsichtsmaßnahmen zumutbar sein müssen, ergibt sich aus der in § 130 Abs. 1 S. 1 OWiG enthaltenen Formulierung „die durch gehörige Aufsicht verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre“. Unzumutbar sind daher die Belohnung für Denunziantentum, die Bespitzelung oder lückenlose Überwachung von Mitarbeitern.[138]
(4) Vorsatz oder Fahrlässigkeit
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Vorsatz und Fahrlässigkeit müssen sich auf die Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes beziehen. Maßgeblicher Inhalt des Vorsatzes sowie Anknüpfungspunkt für die Fahrlässigkeit ist allein das Unterlassen der erforderlichen und zumutbaren Aufsichtsmaßnahmen, nicht aber die konkrete Zuwiderhandlung des Mitarbeiters.[139] Dies bedeutet insbesondere, dass der Vorsatz nicht die konkrete Zuwiderhandlung erfassen muss. Lediglich die betriebstypische Zuwiderhandlungsgefahr muss von Vorsatz und Fahrlässigkeit umfasst sein.[140]
(5) Objektive Bedingung der Ahndung
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Neben der Begehung einer gegen unternehmensbezogene Pflichten gerichteten sanktionsbedrohten Zuwiderhandlung (= Anknüpfungstat) setzt die Vorschrift voraus, dass die Anknüpfungstat durch gehörige Aufsicht verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre (= Zurechnungszusammenhang).
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