1. Teil Einführung und Überblick› F. Rechtsquellen des IPR und ihre Rangfolge› I. Europäisches Recht
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Der Einfluss des Europarechts auf das nationale IPR wächst stetig. Art. 81 AEUV liefert der EU die dafür nötige Kompetenzgrundlage. Die Motive für den europäischen Vereinheitlichungsprozess, an dem der Mitgliedstaat Dänemark nicht beteiligtist,[1] sind vielfältig:
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Erstens verkompliziert die Vielfalt an nationalen IPR-Vorschriften die Bestimmung des anwendbaren Rechts und führt so zu erhöhten Rechtsfindungs- und Transaktionskosten.[2] |
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Zweitens birgt es die Gefahr des sog. forum shopping , bei dem der Kläger seine Klage in demjenigen Land anhängig macht, dessen nationales IPR zur Anwendung eines für ihn günstigen Sachrechts führt. |
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Drittens werden Rechtsverhältnisse seltener nach einem Recht als wirksam und nach einem anderen als unwirksam angesehen (sog. hinkende Rechtsverhältnisse). Diese Nachteile nationaler IPR-Gesetzgebung werden durch Kollisionsrechtsvereinheitlichung abgebaut. |
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Schließlich bringt die sukzessive Ablösung völkerrechtlicher Verträge[3] durch europäisches Verordnungsrecht den Vorteil, dass bei Aufnahme neuer Staaten in die EU nicht erst Beitrittsübereinkommen geschlossen werden müssen, um die IPR-Vorschriften zur Geltung zu bringen.[4] Es bedarf auch keiner Ratifizierung von Protokollen mehr, um die Auslegungskompetenz des EuGH zu begründen; diese stellt sich gem. Art. 267 Abs. 1 AEUV vielmehr automatisch ein.[5] |
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Das Verordnungsrecht der EU bildet neben dem deutschen EGBGB heute die Hauptquelle des IPR. Im Unterschied zum EGBGB, das alle wichtigen nationalen Kollisionsnormen in einem Gesetz bündelt, verteilt sich das europäische Kollisionsrecht auf eine Vielzahl einzelner Verordnungen, die in ihrer Struktur zahlreiche Parallelen aufweisen.[6]
Für das Examen wichtig sind insbesondere die in Art. 3 Nr. 1 a) bis g) aufgeführten:
a) |
Die Rom II-VO,[7] die das Recht der außervertraglichen Schuldverhältnisse regelt, |
b) |
die Rom I-VO,[8] die das Internationale Vertragsrecht regelt, |
c) |
die Europäische Unterhaltsverordnung[9] (EuUntVO), |
d) |
die sog. Rom III-VO[10] zum Internationalen Scheidungsrecht, |
e) |
die Europäische Erbrechtsverordnung[11] (EuErbVO), |
f) |
die ab 29.1.2019 geltende Europäische Güterrechtsverordnung[12] (EuGüVO) und |
g) |
die ab 29.1.2019 geltende Europäische Partnerschaftsverordnung[13] (EuPartVO). |
Hinweis
Zu den beiden letztgenannten „EU-Güter-Verordnungen“ (= EuGüVO und EuPartVO), die ab 29.1.2019 gelten, sind Ende 2018 nationale Durchführungsbestimmungen[14] erlassen worden, die im Jayme/Hausmann Textausgabe Internationales Privat und Verfahrensrecht, 19. Auflage 2018 (Rechtsstand: 1. September 2018), aber noch nicht berücksichtigt werden konnten.[15] Daher wird auf diese nationalen Durchführungsbestimmungen im Folgenden nicht näher eingegangen.
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Weniger prüfungsrelevant sind europäische Richtlinien und die folgenden (überwiegend verfahrensrechtlichen) Verordnungen, von deren Existenz Sie jedoch wissen sollten:[16]
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Die seit dem 13.11.2008 geltende Europäische Zustellungsverordnung (EuZustellVO),[17] |
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die seit dem 12.12.2008 geltende Europäische Mahnverfahrensverordnung (EuMVVO),[18] |
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die seit dem 1.1.2004 geltende Europäische Beweisverordnung (EuBVO),[19] |
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die seit dem 1.1.2009 geltende Europäische Bagatellverordnung (EuBagatellVO),[20] |
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die seit dem 21.10.2005 geltende Verordnung zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen (EuTVO),[21] |
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die seit dem 31.5.2002 geltende Europäische Insolvenzverordnung (EuInsVO),[22] |
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die ab dem 11.5.2015 geltende Verordnung zur Anerkennung von Schutzanordnungen.[23] |
2. Innergemeinschaftliche Staatsverträge
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Der Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen zwischen der EU und den Mitgliedstaaten war lange Zeit das dominierende Handlungsinstrument der EU auf dem Gebiet des IPR. Die prominentesten Beispiele sind das EuGVÜ vom 27.9.1968,[24] das seit dem 1.3.2002 durch die EuGVO[25] weitgehend abgelöst wurde, und das EVÜ[26] vom 19.6.1980, das außer im Verhältnis zu Dänemark durch die Rom I-VO vom 17.12.2009 ersetzt wurde. Wie diese Beispiele verdeutlichen, haben innergemeinschaftliche Staatsverträge im IPR heute kaum noch Bedeutung.
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Schließlich bildet die Rechtsprechung des EuGH eine europäische Rechtsquelle, die durch die Zunahme an europäisiertem Kollisionsrecht an Einfluss gewinnt. Der Gerichtshof entscheidet letztverbindlich über die Auslegung von Verordnungs- und Richtlinienrecht. Aus dem Kanon der bekannten Auslegungsmethoden greift der EuGH verstärkt auf die systematisch-teleologische Auslegung zurück und betont das Effizienzgebot ( effet utile ) des europäischen Rechts;[27] das hat zur Folge, dass der Anwendungsbereich europäischen Sekundärrechts tendenziell weit ausgelegt wird.[28] Insbesondere das Europäische Zivilverfahrens- und das Internationale Gesellschaftsrecht sind in hohem Maße durch die Rechtsprechung des EuGH geprägt.
1. Teil Einführung und Überblick› F. Rechtsquellen des IPR und ihre Rangfolge› II. Völkerrechtliche Staatsverträge
II. Völkerrechtliche Staatsverträge
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Völkerrechtliche Staatsverträge werden zwischen mindestens zwei Staaten geschlossen. Zweiseitige Verträge (Abkommen) werden als bilateral bezeichnet. Wenn mehr als zwei Vertragspartner beteiligt sind, wird von multilateralen Verträgen (Übereinkommen) gesprochen.[29] Letzteren kommt deutlich größere Bedeutung im IPR zu.[30]
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Daneben können völkerrechtliche Verträge nach ihrem Wirkungsbereich unterschieden werden: Sie können auf Gegenseitigkeit beruhen oder allseitig (als sog. loi uniforme ) gelten. Ersteres meint, dass der Vertrag nur im Verhältnis der Vertragsstaaten zueinander anwendbar ist (so etwa Art. 8 des Haager Eheschließungsabkommens[31]). Sofern der Vertrag dagegen als loi uniforme ausgestaltet ist, gilt er auch im Verhältnis zu sog. Nichtvertragsstaaten/Drittstaaten.
Beispiel[32]
In Österreich hatte der Oberste Gerichtshof ( OGH ) über einen Verkehrsunfall zwischen einem deutschen Lkw und einem österreichischem Sattelzug zu entscheiden. Der Unfall ereignete sich in Deutschland.
Der OGH wendete zur Ermittlung des anwendbaren Rechts das Haager Straßenverkehrsunfall-Übereinkommen[33] an, obwohl allein Österreich, nicht aber Deutschland Vertragsstaat dieses Übereinkommens ist. Die Entscheidung des OGH ist deshalb zutreffend, weil das Straßenverkehrsunfall-Übereinkommen nach seinem Art. 11 als loi uniforme ausgestaltet ist.
1. Multilaterale Verträge
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Die multilateralen Regelwerke werden überwiegend von der 1893 gegründeten Haager Konferenz für Internationales Privatrecht (HccH) konzipiert und von Mitgliedern[34] der HccH ratifiziert.[35]
Manche dieser Verträge sind nicht mehr in Geltung oder von Deutschland nicht ratifiziert.[36] Für Klausuren kommt aber ohnehin nur eine überschaubare Anzahl der von Deutschland ratifizierten Übereinkommen in Frage, insbesondere folgende, auf die zum Teil später näher eingegangen wird:
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