Bei einer Betonung der rechtlichen Kriterien wird der Gewinnverwendungsbeschluss als wertbegründendes Ereignis betrachtet. Der Realisationszeitpunkt stimmt mit dem Tag überein, an dem der Gewinnverwendungsbeschluss (rechtswirksam) getroffen wird. Damit hat der Einzelunternehmer M die Dividenden am 4.6.02, dh im Jahr 02 , gewinnwirksam zu verbuchen. Der Beteiligungsertrag wird zu dem Zeitpunkt verbucht, zu dem aus Sicht des Mutterunternehmens der Anspruch gegenüber dem Tochterunternehmen hinsichtlich der Zahlung des Beteiligungsertrags (rechtlich) entsteht.
Stellt man eher auf die wirtschaftlichen Verhältnisse ab , ist der Gewinnverwendungsbeschluss als werterhellendes Ereignis zu interpretieren. Da mit der Entstehung einer Dividendenforderung und damit mit dem Zufluss von Zahlungsmitteln fest gerechnet werden kann, gelten die Beteiligungserträge mit Ablauf des Wirtschaftsjahres der T-AG als realisiert, dh am 31.12.01. Bei einer phasengleichen Vereinnahmung der Beteiligungserträge hat M die Dividenden bereits im Jahr 01 zu versteuern, dh vor dem Zeitpunkt, zu dem der Anspruch rechtlich entsteht. Bei einer phasengleichen Vereinnahmung von Beteiligungserträgen werden diese beim Gesellschafter in dem Jahr ausgewiesen, in dem das Tochterunternehmen die Gewinne erwirtschaftet.
Die materielle Auswirkung der Diskussion um den Anwendungsbereich der phasengleichen Vereinnahmung von Beteiligungserträgen hat zwar mit der Änderung des Körperschaftsteuersystems im Jahr 2000 und der damit verbundenen (teilweisen bzw vollen) Steuerbefreiung von Dividenden (§ 3 Nr 40 EStG, § 8b Abs. 1, 4 KStG) an Bedeutung verloren. Die dabei herangezogenen Argumente sind aber für die Interpretation des Realisationsprinzips sowie für das Verhältnis zwischen Handels- und Steuerbilanz weiterhin sehr bedeutsam. Die Entwicklung der Rechtsprechung zeigt, dass der Zielkonflikt zwischen den Periodisierungsgrundsätzen und dem Objektivierungsgedanken im Zeitablauf in unterschiedlicher Weise gelöst wurde. In diesem Zusammenhang zeigt sich erneut, dass es sich bei den GoB nicht um ein eindeutig formuliertes und starres System handelt, sondern bei der Konkretisierung der einzelnen Unterprinzipien und bei der Festlegung der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen subjektive Wertentscheidungen des Bilanzierenden unvermeidlich sind. Die Entwicklung der Rechtsprechung lässt sich vereinfachend in folgende Phasen einteilen:
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Der Bundesgerichtshof ging zunächst davon aus, dass ein Mehrheitsgesellschafter unter bestimmten Voraussetzungen den Anspruch auf Auszahlung der Dividenden bereits mit Ablauf des Wirtschaftsjahres der Tochtergesellschaft vereinnahmen kann.[10] Das handelsrechtliche Wahlrechtzur phasengleichen Vereinnahmung von Beteiligungserträgen wurde in der Steuerbilanzzu einer Aktivierungspflicht(Einschränkung des Maßgeblichkeitsprinzips bei handelsrechtlichen Bilanzierungswahlrechten, Fall 5).[11] |
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In den folgenden Jahren hat der Bundesfinanzhof den Anwendungsbereichder phasengleichen Vereinnahmung von Beteiligungserträgen immer mehr ausgedehnt.[12] |
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Der Europäische Gerichtshofhat unter Hinweis auf die hohe Bedeutung des Grundsatzes der Bilanzwahrheit, genauer der Anforderung, dass der Jahresabschluss ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens–, Finanz -und Ertragslage vermitteln soll, die Möglichkeit der phasengleichen Vereinnahmung von Beteiligungserträgen als mit der 4. EG-Richtlinie(heute Rechnungslegungsrichtlinie) vereinbarangesehen.[13] |
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Im Anschluss an die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs hat der Bundesgerichtshof aus dem handelsbilanziellenWahlrecht eine Pflichtzur phasengleichen Vereinnahmung von Beteiligungserträgen gemacht.[14] |
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Im weiteren Verlauf kam es in der Finanzrechtsprechung zu einer gegenläufigen Entwicklung. Der Bundesfinanzhoftendiert nunmehr dazu, die objektiv-formale Betrachtung und das Stichtagsprinzip höher zu gewichten als den Grundsatz der Bilanzwahrheit und die dahinter stehende Forderung nach einem Einblick in die tatsächliche Vermögens–, Finanz -und Ertragslage des Unternehmens. In der aktuellen Finanzrechtsprechung wurde aus dem ursprünglichen steuerbilanziellen Gebot zur phasengleichen Vereinnahmung von Beteiligungserträgen für die Steuerbilanz ein Verbot zur phasengleichen Vereinnahmung von Beteiligungserträgen. Der Anspruch auf Dividendenzahlungen kann nach der derzeitigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs in der Steuerbilanz nur noch unter äußerst restriktiven Bedingungen vor dem Zeitpunkt aktiviert werden, zu dem der Gewinnverwendungsbeschluss getroffen wird.[15] |
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Ergebnis dieser Entwicklung der Rechtsprechungist, dass nach aktueller Rechtslage Gewinne aus der Beteiligung an einem Tochterunternehmen in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft in der Steuerbilanz des Mutterunternehmens grundsätzlich erst zu dem Zeitpunkt als realisiertgelten, zu dem der Beschluss über die Gewinnverwendunggetroffen wird. Zu diesem Zeitpunkt wird das Forderungsrecht „Anspruch auf Dividendenzahlungen“ rechtlich begründet. Der Gewinnverwendungsbeschluss gilt als wertbegründendes Ereignis, durch das das selbständige Wirtschaftsgut „Dividendenforderung“ entsteht. Konsequenz ist, dass insoweit das Realisationsprinzip in der Handelsbilanz anders interpretiertwird als in der Steuerbilanz. Es kommt zu einer Durchbrechung der Maßgeblichkeit der Handelsbilanz für die Steuerbilanz: Es existieren zwei verbindliche, sich widersprechende Vorgehensweisen ( Fall 2b): Ein Mehrheitsgesellschafter muss (unter bestimmten Voraussetzungen) in der Handelsbilanz seine Beteiligungserträge bereits mit Ablauf des Wirtschaftsjahres der Tochterkapitalgesellschaft vereinnahmen, während für die steuerliche Gewinnermittlung davon ausgegangen wird, dass der Realisationszeitpunkt mit dem Zeitpunkt zusammenfällt, zu dem der Gewinnverwendungsbeschluss getroffen wird. Stimmt das Wirtschaftsjahr mit dem Kalenderjahr überein, werden die Beteiligungserträge in der handelsrechtlichen Rechnungslegung eine Periode früher erfasst(im Beispiel im Jahr 01) als in der Steuerbilanz(im Beispiel im Jahr 02). In der handelsrechtlichen Rechnungslegung wird den Periodisierungsgrundsätzen ein höheres Gewicht beigemessen als dem Objektivierungsgedanken. Demgegenüber fällt für die steuerliche Gewinnermittlung über die stärkere Betonung von rechtlichen Kriterien der Abwägungsprozess zugunsten der Objektivierungsüberlegungen aus.
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(b) Die Auswirkungen des Zielkonflikts zwischen den Periodisierungsprinzipien sowie dem Objektivierungsgedanken zeigen sich auch bei der langfristigen Fertigung. Die langfristige Fertigung ist dadurch gekennzeichnet, dass sich bei einem Vertrag, der mit einem Kunden über ein konkretes Projekt abgeschlossen wurde, der Leistungserstellungsprozess über mehrere Perioden erstreckt. Betont man – wie der Bundesfinanzhof bei Dividendenansprüchen aus der Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft – den Objektivierungsgedanken sehr stark, ist zur Festlegung des Zeitpunkts der Gewinnrealisierung in erster Linie auf rechtliche Kriterien abzustellen. Nach dieser Betrachtung gelten die Erträge aus dem Absatz der betrieblichen Hauptleistung zu dem Zeitpunkt als realisiert, zu dem die Preisgefahr auf den Abnehmer übergeht. Bei einer langfristigen Fertigung bedeutet dies, dass die Umsatzerlöse erst in dem Jahr zu erfassen sind, in dem das Projekt vollständig abgeschlossen ist, dh zu dem Zeitpunkt, zu dem das erstellte Wirtschaftsgut dem Käufer übergeben und von diesem abgenommen wird. In den Jahren, in denen das Produkt erstellt wird, dürfen noch keine Umsatzerlöse und damit kein Gewinn ausgewiesen werden. Diese Form der Gewinnrealisierung bei langfristiger Fertigung wird als Completed-Contract-Methodbezeichnet.
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