Gesetzestechnisch handelt es sich bei den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung um einen unbestimmten Rechtsbegriff. Der Verweis auf die GoB reduziert den Umfang der notwendigen gesetzlichen Vorschriften. Da eine vollständige gesetzliche Regelung zur Verbuchung sämtlicher denkbarer Geschäftsvorgänge aufgrund der Vielzahl der möglichen wirtschaftlichen Sachverhalte nicht praktikabel ist, ist es sachgerecht, dass die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung nicht vollständig kodifiziert sind. Ein weiterer Vorteil der Verwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffs besteht darin, dass beim Auftreten neuer wirtschaftlicher Sachverhalte bzw bei Änderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse die Interpretation der GoB angepasst werden kann, ohne dass eine Änderung von Gesetzen notwendig ist.
Da der Gesetzgeber Normen geschaffen hat, wie die Unternehmen ihre handelsrechtliche Rechnungslegung auszugestalten haben (insbesondere § 238 – § 289 HGB) und die Steuerpflichtigen diese Buchführungs- und Bilanzierungsvorschriften auch für die ertragsteuerliche Gewinnermittlung zu beachten haben, handelt es sich bei der Handelsbilanz – und über das Maßgeblichkeitsprinzip auch bei der Steuerbilanz – um eine Bilanz im Rechtssinne. Welche Aufgaben eine Bilanz aus betriebswirtschaftlicher Sicht erfüllen soll, steht weder bei der Aufstellung einer Handelsbilanz noch bei der Aufstellung einer Steuerbilanz im Mittelpunkt. Beurteilungsmaßstab bilden vielmehr die gesetzlichen Vorschriften. Dies gilt auch für die Konkretisierung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung. Die gesetzlich geregelten und die nicht kodifizierten GoB sind nach rechtswissenschaftlichen Grundsätzen zu interpretieren. Bei der Auslegung der gesetzlichen Vorschriften ist zwar auch deren wirtschaftlicher Gehalt zu berücksichtigen, das Abstellen auf die wirtschaftlichen Verhältnisse ist jedoch Teil einer zweckorientierten Gesetzesauslegung. Die Auslegung von Gesetzesnormen nach den vom Gesetzgeber vorgegebenen Zielen ist ein Teil der Rechtsanwendung. Sie ist zu unterscheiden von der betriebswirtschaftlichen Sichtweise (Behandlung eines Geschäftsvorfalls entsprechend den von der Betriebswirtschaftslehre als sinnvoll angesehenen Bilanzierungszwecken).[1]
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Vgl Moxter, StuW 1983, S. 300.
3. Herleitung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung
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(1) Einführung: Der unbestimmte Rechtsbegriff„Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung“ bedarf der Konkretisierung, um auf den jeweiligen Einzelfall angewendet werden zu können. Bei der Herleitungder GoB bestehen jedoch erhebliche Schwierigkeiten, weil es sichbei den GoB nicht um ein starres System handelt. Vielmehr unterliegen die GoB im Zeitablauf Änderungen, um die Bilanzierungspraxis an die wirtschaftlichen Entwicklungen und an die sich wandelnden Auffassungen über die mit der Handels- und Steuerbilanz verfolgten Ziele anpassen zu können.
Die folgende Erläuterung zur Herleitung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung dient dem Verständnis dafür, dass sich für die Behandlung eines bestimmten Geschäftsvorgangs in der handels- oder steuerrechtlichen Rechnungslegung häufig keine eindeutige Aussage ableiten lässt. Es soll deutlich werden, weshalb ein Interpretationsspielraum unvermeidlich ist und dass sich bei einer Veränderung der Anforderungen an die Rechnungslegung der Inhalt der GoB ebenfalls ändert.
Für die Konkretisierung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung stehen prinzipiell drei Vorgehensweisenzur Verfügung. Entscheidend ist die teleologische Ermittlung. Die ausschließliche Anwendung der induktiven oder der deduktiven Ermittlung ist abzulehnen.
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(2) Induktive Ermittlung: Bei der induktiven Ermittlung bestimmt sich der Inhalt der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung aus dem Handelsbrauch und der Verkehrsanschauung „ehrenwerter“ Kaufleute. Es wird allerdings nicht ausschließlich darauf abgestellt, wie in der Praxis tatsächlich bilanziert wird (deskriptive Vorgehensweise), sondern vielmehr darauf, wie ordentliche und ehrenwerte Kaufleute bilanzieren sollten(normativer Ansatz). Eine unmittelbare Übernahme der Bilanzierungspraxis scheidet aus, weil ansonsten die Kaufleute zu Richtern über sich selbst werden würden: Die zur Rechenschaftslegung verpflichteten Personen würden sich die Maßstäbe selbst setzen.
Die induktive Methodeist aus mehreren Gründen problematisch: (1) Es lassen sich keine konkreten Kriterien dafür finden, wer als „ehrenwerter“ Kaufmann giltund in welcher Weise er sich von einem „unehrenwerten“ Kaufmann unterscheidet. (2) Auch ordentliche und ehrenwerte Kaufleute stellen nur eine Parteides sich in der handelsrechtlichen Rechnungslegung widerspiegelnden Interessenkonflikts zwischen Eigentümern, Managern und Gläubigern dar. Wenn diejenigen, die die Handelsbilanz aufstellen, den Inhalt der GoB selbst bestimmen können, werden deren Interessen im Vergleich zu den Interessen der anderen Jahresabschlussadressaten stärker gewichtet. (3) Neuartige und strittige Bilanzierungsfragen bleiben so lange unbeantwortet, bis sich in der Praxis eine einheitliche Handhabung herausgebildet hat. Damit wird eine Weiterentwicklungder Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung erschwert. (4) Die induktive Methode ist mitdem Fiskalzweckder steuerlichen Gewinnermittlung unddem Grundsatz der Rechtssicherheitnicht vereinbar. Da auch ehrenwerte Kaufleute ihre eigenen Ziele verfolgen, werden sie die GoB so interpretieren, dass die Belastung der erzielten Erfolge möglichst niedrig gehalten bzw so weit wie möglich in die Zukunft verlagert wird. Dies würde zu einer Ungleichbehandlung zwischen den Einkünften aus Gewerbebetrieb und den anderen Einkunftsarten und damit zu einem Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung führen.
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(3) Deduktive Ermittlung: Bei der deduktiven Vorgehensweise werden die Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung aus den Zielen der Rechnungslegung abgeleitet. Dieser Weg ist insofern nicht hilfreich, als sich aus dem Gesetz kein eindeutiger Zielplan ableiten lässt und auch keine einheitliche Auffassung darüber besteht, in welchem Verhältnis die mit der externen Rechnungslegung verfolgten Ziele zueinander stehen. Damit fehlen allgemein anerkannte Oberprinzipien, aus denen die einzelnen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung abgeleitet werden können. Bezogen auf die Ziele, bei denen sich eine einheitliche Meinung herausgebildet hat (Dokumentations–, Informations- und Zahlungsbemessungsfunktion), ergibt sich die Schwierigkeit, dass diese zu allgemein sind, um als konkrete Leitlinie zur Lösung spezieller Bilanzierungs- und Bewertungsfragen zu dienen.
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(4) Teleologische Ermittlung: Ausgangspunkt der teleologischen Methode ist die Charakterisierung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung als unbestimmten Rechtsbegriff, dessen Inhalt nach den üblichen Auslegungsregeln der Rechtswissenschaft zu bestimmenist. Bei der Interpretation der gesetzlichen Vorschriften sind heranzuziehen:
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der Wortlaut und Wortsinn der handelsrechtlichen Normen, wobei auf den allgemeinen Sprachgebrauch und die fachspezifische Terminologie zurückzugreifen ist, |
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die Bedeutungszusammenhänge der einzelnen Vorschriften, dh die systematische Stellung im Gesetz sowie das Verhältnis zur Einblicksforderung (Grundsatz des True and Fair View) und zu anderen Einzelregelungen, |
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die Entstehungsgeschichte des Gesetzes, |
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der Wille des Gesetzgebers, wie er in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommt, |
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die Prioritätsregeln, nach denen höherrangige Rechtsnormen (insbesondere die Verfassung) den für die handelsrechtliche Rechnungslegung relevanten (einfachen) Gesetzen vorgehen. |
Das Problem bei der Interpretation des unbestimmten Rechtsbegriffs „Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung“ liegt darin, dass die heranzuziehenden Rechtsmaterialien zu unbestimmt sind, um damit ein eindeutiges, allgemein anerkanntes und geschlossenes System zu entwickeln. Obwohl die teleologische Auslegung des Begriffs der GoB nichtzu intersubjektiv eindeutigenErgebnissen führt, muss deren Inhalt konkretisiert werden, um die handels- und steuerrechtliche Rechnungslegung in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften gestalten zu können. Anhaltspunkte für diesen von jedem Rechtsanwender vorzunehmenden (subjektiven) Auslegungsprozess bilden sein Vorverständnisüber den Inhalt der handelsrechtlichen Rechnungslegung sowie seine Wertentscheidungenhinsichtlich des Inhalts der einzelnen Rechtsquellen sowie des Verhältnisses zwischen sich widersprechenden Interpretationsquellen.
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