[1]
Diese „Indikatorfunktion“ von Strafrechtsnormen wird in der Rechtssoziologie unter anderen Vorzeichen schon seit längerem diskutiert, etwa bei Durkheim , Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (1930), 7. dt. Aufl. 2016, der zwischen repressivem und restitutivem Recht unterscheidet und Bezüge zur sozialen „Solidarität“, also der moralischen Grundverfassung einer Gesellschaft, herausarbeitet. Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Kollegen Hubert Rottleuthner , der den nachfolgenden Text schon in einer frühen Fassung kritisch gegengelesen und kommentiert hat, wofür ich ihm auch an dieser Stelle noch einmal herzlich danken möchte. Näher zu Durkheims Konzept einer Indikatorfunktion des (Straf-)Rechts Rottleuthner , Foundations of Law, S. 122 ff.
[2]
Die Formulierung stammt von Hassemer , Produktverantwortung im modernen Strafrecht, 2. Aufl. 1994, S. 8.
[3]
Schultz , Abschied vom Strafrecht, in Rehbinder (Hrsg.), Schweizerische Beiträge zur Rechtssoziologie. Eine Auswahl, 1984, S. 125–134, insb. S. 126.
[4]
v. Liszt , Über den Einfluss der soziologischen und anthropologischen Forschungen auf die Grundbegriffe des Strafrechts, in: ders., Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, S. 80.
[5]
So die Forderungen am Schluss des „Marburger Programms“, v. Liszt , Der Zweckgedanke im Strafrecht (1882), in: ders., Strafrechtliche Vorträge und Aufsätze, Bd. 1, S. 178 f.
[6]
Vormbaum , Moderne Strafrechtsgeschichte, S. 118 ff.; 124 ff.; Eb. Schmidt , Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, ND. 1983, S. 368 ff.; siehe auch Koch , Binding vs. v. Liszt, Klassische und moderne Strafrechtsschule, in: Hilgendorf/Weitzel (Hrsg.), Der Strafgedanke in seiner historischen Entwicklung, S. 127 ff., 133 ff.
[7]
König , Das Recht im Zusammenhang der sozialen Normensysteme, in: Hirsch/Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtsoziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 11/1967, S. 36–53; Hirsch , Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge, in: ders., Das Recht im sozialen Ordnungsgefüge. Beiträge zur Rechtssoziologie, 1966, S. 25–37. Aus dem angelsächsischen Sprachraum Friedman , The Legal System. A Social Science Perspective, 1975; ders., Impact. How Law Affects Behavior, 2016; Posner , Frontiers of Legal Theory, 2001, S. 288 ff.
[8]
Nicht näher behandelt werden soll hier die seit Tönnies umstrittene Unterscheidung zwischen „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“. Nach Tönnies handelt es sich um zwei völlig unterschiedliche Typen sozialer Organisation: Während „Gemeinschaft“ in nicht näher reflektierten Gefühlen von Solidarität und Zusammengehörigkeit wurzele, zeichne sich „Gesellschaft“ durch rationale Kalküle auf der Grundlage individueller Interessen aus ( Tönnies , Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887). Die Zugehörigkeit dieser Sicht zum Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist offenkundig. Näher zum Verhältnis von „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ aus heutiger Sicht Rosa u.a., Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, 2010.
[9]
Aristoteles , Politik, 1253a 1–11.
[10]
M. Weber definiert „soziales Handeln“ deshalb als solches Handeln, „welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und dadurch in seinem Ablauf orientiert ist“ (Wirtschaft und Gesellschaft, S. 1). An anderer Stelle heißt es: „Soziales Handeln (einschließlich des Unterlassens oder Duldens) kann orientiert werden am vergangenen, gegenwärtigen oder für künftig erwarteten Verhalten anderer (Rache für frühere Angriffe, Abwehr gegenwärtigen Angriffs, Verteidigungsmaßregeln gegen künftige Angriffe). Die „anderen“ können Einzelne und bekannte oder unbestimmt viele und ganz Unbekannte sein („Geld“ z.B. bedeutet ein Tauschgut, welches der Handelnde beim Tausch deshalb annimmt, weil er sein Handeln an der Erwartung orientiert, dass sehr zahlreiche, aber unbekannte und unbestimmt viele Andre es ihrerseits künftig in Tausch zu nehmen bereit sein werden).“ (Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 1972, S. 11).
[11]
H. Popitz , Soziale Normen, S. 74.
[12]
H. Albert spricht in diesem Zusammenhang treffend von einem „natürlichen Wertplatonismus der alltäglichen Weltorientierung“, in: ders., Traktat über kritische Vernunft, 5. Aufl. 1991, S. 66.
[13]
Die Debatte leidet allerdings darunter, dass Konzepte wie „Norm“, „normativ“ oder „Normativität“ in ganz unterschiedlichen Bedeutungen verwendet werden, dazu (am Beispiel des Begriffs „normativ“) Hilgendorf , Rottleuthner-FS, S. 45–61. So verwendet etwa E. Posner den Begriff „social norm“, um Verhaltensregularitäten zu beschreiben, also rein deskriptiv ( Posner , Law and Social Norms, 2000, S. 7 f.; 34), während Möllers , Die Möglichkeit der Normen, 2015, Normen als „positiv markierte Möglichkeiten“ versteht. Primär wissenschaftslogisch orientiert sind die Beiträge in Braybrooke (ed.), Social Rules. Origin, Character, Logic, Change, 1996. Klärend Hoerster , Norm: Begriff, Geltung und Wirklichkeit, in: W. Krawietz u.a. (Hrsg.), Politische Herrschaftsstrukturen und Neuer Konstitutionalismus – Iberoamerika und Europa in theorievergleichender Perspektive, 2000, S. 235 ff., und Stemmer , Die Konstitution der normativen Wirklichkeit, in: Forst/Günther (Hrsg.), Die Herausbildung normativer Ordnungen, S. 57 ff.; aus Sicht einer allgemeinen Rechtslehre Meyer-Cording , Die Rechtsnormen, 1971, S. 6 ff.; umfassend Kelsen , Allgemeine Theorie der Normen, hrsg. von Ringhofer und Walter, 1979.
[14]
Grundlegend Geiger , Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts, S. 54 ff.; Deimling , Recht und Moral. Gedanken zur Rechtserziehung, 1972, S. 17 f. Siehe auch Luhmann , Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1983, S. 31 ff., 40 ff., der allgemein von Erwartungen als anthropologischen Konstanten ausgeht und zwischen kognitiven und normativen Erwartungen differenziert. Der Unterschied wird allerdings erst im Enttäuschungsfall erkennbar. Normen, welcher Art auch immer, haben ihr Fundament in (normativen) Erwartungen. Dagegen hält Lucke , Artikel „Norm und Sanktion“ in: Endruweit/Trommsdorff/Burzan (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie. 3., völlig überarb. Aufl. 2014, S. 340 die Frage nach der „konkreten Normentstehung“ für nach wie vor „theoretisch und empirisch weithin unbeantwortet“.
[15]
Die Terminologie ist nicht einheitlich.
[16]
Der Begriff „Verhaltensnorm“ wird hier also nicht im Sinne der (für die oben behandelten Zusammenhänge wenig ertragreichen) Normentheorie Bindings behandelt, vgl. Binding , Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 45. Näher am hier verwendeten Sprachgebrauch liegt Max Ernst Mayer mit seinem Konzept von „Kulturnormen“ (Rechtsnormen und Kulturnormen, 1903, insbes. S. 130 ff. in Auseinandersetzung mit Binding ).
[17]
Lucke , Artikel „Norm und Sanktion“, in: Endruweit/Trommsdorff/Burzan (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, S. 338.
[18]
Deimling hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Normen auch heute noch auf diese Weise entstehen: Überall „da, wo Menschen unterschiedlicher kultureller Tradition und Nationalität einander begegnen, die weder eine gemeinsame Sprache sprechen noch über gemeinsame Erfahrungen im Umgang miteinander verfügen, kommt es in der Regel nicht zu einem Chaos. Die gegenseitige Beobachtung und Kontrolle der Mimik und Gestik, der Vibration der Stimme oder anderer verhaltensrelevanter Äußerungen sowie die sich aus der Deutung der beobachteten Phänomene spontan ergebenden Reaktionen der Beteiligten erzeugen Situationen, denen zwar noch keine verbindlichen Verhaltensregeln zugrunde liegen, in denen sich aber, wenn sie nur lang genug dauern und sich öfter wiederholen, gewisse Gleichförmigkeiten des Verhaltens entwickeln.“ ( Deimling , Recht und Moral, S. 17 f.) Man beachte, dass Gleichförmigkeiten noch keine Normen sind; der Sprachgebrauch ist allerdings uneinheitlich.
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