4. Ungeschriebene Beschränkung auf inländische Rechtsgüter
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Auch wenn die Voraussetzungen der §§ 3 ff. StGB erfüllt sind, scheidet die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf eine (Inlands- wie Auslands-)Tat nach allgemeiner Ansicht aus, wenn eine Strafvorschrift nur „inländische Rechtsgüter“ schützt, gegen die sich die jeweilige Tat aber nicht richtet.[149] Umstritten ist, ob sich diese Beschränkung schon aus den – nach dieser Ansicht vorab zu erörternden – §§ 3 ff. StGB ergibt[150] oder insoweit allein auf die Auslegung der einzelnen Straftatbestände zu verweisen bleibt.[151] Veranschaulicht werden kann die fehlende Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts anhand der Staatsschutztatbestände der §§ 80 ff. StGB, die lediglich Deutschland selbst vor Angriffen auf die innere und äußere Sicherheit bewahren sollen. Andere Staaten müssen sich hingegen selbst um ihren eigenen Schutz kümmern. Würde insoweit auf das deutsche Strafrecht zurückgegriffen werden, könnte dies vielmehr als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der betroffenen Staaten und als Verletzung ihrer Staatshoheit aufzufassen sein.[152]
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Ob ein Straftatbestand lediglich inländische Rechtsgüter schützt, ergibt sich aus dessen Auslegung. Hierbei wird nicht zuletzt der Sinn und Zweck der Vorschrift besonders zu beachten sein.[153] Strafvorschriften zum Schutz von staatsbezogenen Universalrechtsgüternbeziehen sich demnach in der Regel lediglich auf nationale Interessen. Exemplarisch ist insoweit neben den genannten §§ 80 ff. StGB auf die Rechtspflegedelikte z.B. der § 145d, §§ 153 ff. und § 258 StGB zu verweisen,[154] die grundsätzlich nur die inländische Rechtspflege vor Beeinträchtigungen schützen sollen;[155] siehe aber § 162 StGB zur Anwendbarkeit der §§ 153 ff. StGB auf falsche Angaben in einem Verfahren vor einem internationalen Gericht.[156]
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Bei Straftaten, die (zumindest auch) Individualrechtsgüterschützen, geht die Unterscheidung zwischen inländischen und ausländischen Interessen ins Leere. Es werden vielmehr sämtliche Rechtsgüter eines Einzelnen unabhängig von seiner Nationalität geschützt, hat jeder Staat doch auch ausländischen Staatsangehörigen jedenfalls einen Mindestschutz zu gewährleisten.[157] Sofern der räumliche Geltungsbereich des deutschen Strafrechts eröffnet ist – insoweit kann nach dem passiven Personalitätsprinzip die Nationalität des Opfers indes eine Rolle spielen –, ist die Staatsangehörigkeit des Opfers daher ohne Bedeutung.[158]
II. Klassische Fragestellungen
1. Begehungsort der Tat nach § 9 Abs. 1 StGB
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Auch bei dem Begehungsort der Tat gilt es, den völkerrechtlichen Charakterdes Strafanwendungsrechts zu berücksichtigen. Ansonsten droht über den Umweg einer weiten Interpretation des § 9 StGB die Begrenzung durch das Territorialitätsprinzip bzw. das Erfordernis eines sonstigen Inlandsbezugs als „genuine link“ entwertet bzw. sogar aufgehoben zu werden. Dass solche Befürchtungen keine Schwarzmalerei sind, zeigen Überlegungen zur Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts bei Äußerungen im Internet ( Rn. 88), die nahezu einer Allzuständigkeit der deutschen Rechtsprechung für sämtliche Kommunikationen im Internet das Wort redeten.
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Der Tätigkeitsortnach § 9 Abs. 1 Var. 1 StGB befindet sich an jedem Ort, an dem der Täter eine auf die Verwirklichung des Tatbestands gerichtete Tätigkeit entfaltet, die zumindest das Versuchsstadium erreicht.[159] Vorbereitungshandlungen sind unbeachtlich, sofern sie nicht selbstständig mit Strafe bedroht sind.[160] Ebenso wenig erfasst sind Handlungen nach Beendigung der Tat.[161] Bei Dauerdelikten befindet sich der Handlungsort an jedem Ort, an dem ein Teilakt des Delikts ausgeführt wird.[162] Gleiches gilt bei mehraktigen Delikten.[163] Generell liegt eine Inlandstat bereits dann vor, wenn sie auch nur teilweise im Inland begangen wird.[164]
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Beim Erfolgsortgemäß § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB ist zunächst die einschränkende Beschreibung „zum Tatbestand gehörend[e]“ zu würdigen. Demnach genügt nicht jede beliebige Folge einer Tat, sondern bedarf es einer Auswirkung, die für die Tatbestandsverwirklichung erheblich ist.[165] Außertatbestandliche Folgen sind nicht erfasst.[166] Nach herrschender Meinung soll auch der Ort, an dem eine objektive Strafbarkeitsbedingungeintritt, einen Erfolgsort darstellen.[167] Schließlich zielt der jeweilige Straftatbestand gerade darauf ab, den Eintritt solcher Folgen zu vermeiden.[168] Dem wird allerdings entgegengehalten, dadurch die Funktion der objektiven Strafbarkeitsbedingungen als strafbarkeitsbegrenzendes Element nicht zu berücksichtigen.[169]
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Bei Unterlassungstatenliegt zunächst nach § 9 Abs. 1 Var. 2 StGB der Begehungsort an dem Ort, an dem der Täter im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen. Hierunter fällt unstreitig der Aufenthaltsort des Täters während seines Untätigbleibens, zudem nach verbreiteter Ansicht auch der sog. Vornahmeort, von dem aus der Täter den Erfolg hätte abwenden müssen.[170] Darüber hinaus bleibt als Begehungsort einer Unterlassungstat der sog. Erfolgsabwendungsort anzusehen, an dem der Erfolgseintritt hätte abgewendet werden müssen.[171]
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Konkrete Gefährdungsdelikteweisen ihren Erfolgsort dort auf, wo die tatbestandliche Gefahr begründet wird.[172] Kontrovers diskutiert wird hingegen die Behandlung abstrakter Gefährdungsdelikte; dieser Meinungsstreit erfährt eine zunehmende Bedeutung bei Äußerungsdelikten im Internet, die häufig gerade abstrakte oder abstrakt-konkrete Gefährdungsdelikte darstellen. Jedenfalls sofern es sich hierbei wie in der Regel um Tätigkeitsdelikte handelt, scheint es nahe zu liegen, einen Erfolgsort von vornherein abzulehnen, setzen Tätigkeitsdelikte doch nach ihrer tatbestandlichen Struktur keinen (Tat-)Erfolg voraus und erscheint die Annahme eines „zum Tatbestand gehörende(n)“ Erfolgs daher durchaus fraglich.[173] Zudem ist bei abstrakten Gefährdungsdelikten im Allgemeinen zu bedenken, dass die als Erfolg in Betracht kommende Gefährlichkeit der tatbestandlichen Tätigkeit lediglich das Motiv des Gesetzgebers für den Erlass der jeweiligen Strafvorschrift bildet, nicht jedoch ein Tatbestandsmerkmal.[174] Allenfalls wenn der jeweilige Tatbestand einen sog. Zwischenerfolg in Gestalt einer näher beschriebenen Wirkung (z.B. das Inbrandsetzen bei der Brandstiftung gemäß § 306a Abs. 1 StGB) voraussetze, dem eine abstrakte Gefährlichkeit zugeschrieben wird, könne an dem Ort, an dem dieser Zwischenerfolg eintritt, ein Erfolgsort angenommen werden.[175]
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Diese sehr nahe an den einzelnen Tatbestandsmerkmalen orientierte Auslegung erscheint im Hinblick auf den Schutzzweck abstrakter Gefährdungsdelikte überdenkenswert. Schließlich wäre es jedenfalls kurios, dass die Entscheidung des Gesetzgebers für ein abstraktes Gefährdungsdelikt unter Verzicht auf eine konkrete Gefahr oder eine Verletzung des geschützten Rechtsguts als tatbestandlichen Erfolg bei Handlungen im Inland zu einer Ausweitung des Strafrechts führen würde, bei Handlungen im Ausland hingegen zu einer Einschränkung mangels Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts wegen eines generell abzulehnenden Erfolgsorts führte.[176] Auch bei § 13 Abs. 1 StGB wird die mit § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB vergleichbare Formulierung „einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört“, nicht derart interpretiert, dass ein unechtes Unterlassen bei Tätigkeitsdelikten von vornherein ausgeschlossen ist.[177] Einiges spricht daher dafür, bei Tätigkeitsdelikten einen Erfolgsort nicht kategorisch abzulehnen. Als „Erfolg“ im Sinne des § 9 Abs. 1 Var. 3 StGB ließe sich grundsätzlich diejenige (abstrakte) Gefahr begreifen, vor deren Realisierung der jeweilige Straftatbestand gerade schützen wollte. Ein Erfolgsort könnte demzufolge überall dort erwogen werden, wo sich diese Gefahr realisieren könnte[178] bzw. tatsächlich realisiert hat.[179] Allerdings bleibt zu berücksichtigen, dass ein Staat selbst nach dem Auswirkungsgrundsatz ( Rn. 18) seine Strafgewalt nicht schon bei lediglich denkbaren Folgen beanspruchen kann. Notwendig sind vielmehr tatsächliche Beeinträchtigungen oder zumindest konkrete Gefährdungen des geschützten Rechtsguts. Daher bietet es sich an, für die Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts bei abstrakten Gefährdungsdelikten ebenso eine (Verletzung oder zumindest) konkrete Gefährdung des jeweiligen Schutzguts zu fordern.[180] Abstrakten Gefährdungsdelikten einen Erfolgsort zuzugestehen, bedeutet somit nicht, für eine uferlose Anwendbarkeit des nationalen Strafrechts einzutreten.
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