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Mittels Definition lässt sich die Bedeutung eines Ausdrucks festsetzen. Definitionen sind nicht wahr oder falsch, sondern nur mehr oder weniger zweckmäßig oder „adäquat“.[35] Natürlich lassen sich Definitionen an Adäquatheitsbedingungen messen, die die Brauchbarkeit der Sprachfestsetzung für die angestrebten Zwecke umschreiben, etwa die Eindeutigkeit der Bedeutungsfestsetzung, ihre Verständlichkeit, ihre Widerspruchsfreiheit, ihre Vereinbarkeit mit akzeptierten Randbedingungen oder auch ihre praktische Anwendbarkeit, ein Faktor, der für die Rechtswissenschaft eine besondere Rolle spielt oder zumindest spielen sollte.[36]
6. Abschnitt: Die Straftat› § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht› C. Geistesgeschichtlicher Hintergrund
C. Geistesgeschichtlicher Hintergrund
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Ein wesentlicher Vorteil eines strukturierten Verbrechensaufbaus liegt in seinen Leistungen zur Sicherstellung der Bindung des Rechtsanwenders an das Gesetz. Geistesgeschichtlicher Hintergrund ist die Rechtsphilosophie der Aufklärung (→ AT Bd. 1: Eric Hilgendorf , Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des heutigen Strafrechts in der Aufklärung, § 6). Allerdings hat das aufklärerische Denken nicht in allen Ländern zu einer vergleichbar ausdifferenzierten Strafrechtsdogmatik geführt. Ein wichtiger zusätzlicher Faktor in Deutschland war der systematische Ansatz von Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbach , der den Grundstein zur Entwicklung der in besonderem Maße „systemaffinen“ Strafrechtsdogmatik in Deutschland – aber nicht nur dort – gelegt hat.
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Feuerbach verdankte seine Neigung zu systematischem Denken und Darstellen wohl vor allem den Einflüssen der zeitgenössischen Philosophie, denen er als junger Philosophiestudent in Jena ausgesetzt war. Während Feuerbach in seinen kriminalpolitischen und rechtsphilosophischen Ansichten zeit seines Lebens von der französischen Aufklärungsphilosophie beeinflusst blieb,[37] wurde er in seiner Jugend formal entscheidend von Kant geprägt. Darüber, ob er zumindest eine Zeit lang auch inhaltlich Positionen des Königsberger Philosophen vertreten hat, besteht keine Einigkeit.[38]
I. Zum Systemdenken im Recht
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Der Ausdruck „System“ lässt sich vom griechischen Wort „systema“ herleiten, was so viel wie „Zusammenstellung“ bedeutet.[39] Ein wissenschaftliches System ist aber mehr als eine bloße Aneinanderreihung von Gesichtspunkten: es soll das vorhandene Wissen zu einer – im besten Fall logisch strukturierten – Einheit zusammenfügen. Kant nennt das System ein „nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis“.[40] Verstanden in diesem Sinne, ist das System bzw. ein systematisches Vorgehen heute kennzeichnendes Merkmal jeder Wissenschaft.[41]
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Ansätze zu juristischer Systembildung finden sich bereits in der Antike, allerdings nicht im griechischen Recht, sondern erst in Rom. Die ersten Formen juristischer Systembildung sind wohl das Ergebnis einer Rezeption der griechischen Philosophie und Wissenschaftslehre durch die römische Jurisprudenz.[42] Ciceros verlorengegangene Schrift „de jure civili in artem redigendo“ soll, so wird heute angenommen, eine Strukturierung des römischen Rechts im Geist der griechischen Wissenschaftslehre eingefordert haben. In der Praxis blieb dieser Ansatz aber weitgehend folgenlos: Die klassischen römischen Juristen orientierten sich ganz überwiegend an Einzelfällen und beschränkten sich auf eine eher „assoziative(…) Stoffanordnung“.[43]
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Die bekannteste Ausnahme ist das für Unterrichtszwecke konzipierte Institutionensystem des Gaius . Es diente der europäischen Zivilrechtswissenschaft bis in das 19. Jahrhundert hinein als Referenzwerk, und immer wieder wurde versucht, auf seiner Grundlage leistungsfähigere Systeme zu entwerfen.[44] Wichtige Etappen der „Arbeit am System“ in der europäischen Rechtsgeschichte bilden die Vernunftrechtswissenschaft der Aufklärung und der wissenschaftliche Positivismus der Begriffsjurisprudenz.[45]
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Als ein Hauptvertreter der Begriffsjurisprudenz gilt der junge Rudolf von Jhering . In den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts postulierte er eine „naturhistorische Methode“, wonach rechtsdogmatisches Arbeiten als bloßes Konstruieren mit Begriffen gedeutet werden könne.[46] Jhering hat sich allerdings in späteren Arbeiten entschieden von dieser Ansicht distanziert und das jeweils geltende Recht als Ergebnis von Interessenkonflikten gedeutet.[47] Legt man ein solches Verständnis von Recht zugrunde, so ist auch die Systematik des Rechts grundsätzlich abhängig von den sie bestimmenden Interessen, sie ist also nicht etwa a priori vorgegeben, sondern dem historischen Wandel unterworfen.[48]
II. Varianten des Systemdenkens
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Es ist heute üblich, verschiedene Arten von Systemen zu unterscheiden. Dazu gehört zunächst die Differenzierung zwischen äußerem und innerem System. Ein äußeres System dient vor allem Darstellungszwecken, während ein inneres System die sachliche Struktur eines Gegenstandsbereichs wiederzugeben versucht.[49] Nicht selten findet das innere System im äußeren einen Ausdruck, man denke nur an die heute allgemein übliche Darstellung des Besonderen Teils nach betroffenen Rechtsgütern.[50]
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Differenzieren lässt sich auch nach offenen und geschlossenen Systemen. Die Elemente eines offenen Systems sind modifizierbar und ergänzbar, die eines geschlossenen Systems nicht.[51] Leitbild geschlossener Systeme ist das Axiomensystem. Es liegt auf der Hand, dass für die Rechtswissenschaft, deren Erkenntnisbereich andauerndem Wandel unterworfen ist, grundsätzlich nur offene Systeme von Nutzen sind.[52]
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Damit verwandt, aber nicht ganz deckungsgleich ist die Unterscheidung von starren und beweglichen Systemen.[53] In einem beweglichen System kann das Fehlen bestimmter Systemelemente (z.B. im Rahmen einer Anspruchsgrundlage) durch eine besonders deutliche Ausprägung anderer Systemelemente kompensiert werden, in starren Systemen nicht. Wegen des hohen Bestimmtheits- und Formalisierungsgrades im Strafrecht kommen „bewegliche“ Systeme hier weniger in Betracht, sind aber keineswegs völlig ausgeschlossen.
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So wird man etwa nicht behaupten wollen, dass Zweifel an der Kausalität einer bestimmten Handlung durch einen besonders deutlich ausgeprägten Schaden kompensiert werden können. Andererseits wird vertreten, dass etwa beim entschuldigenden Notstand (§ 35 StGB) das Fehlen des dort erforderlichen Nähebezugs zwischen Akteur und Gefahr (Handeln, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer sonst nahestehenden Person abzuwenden) durch eine besondere Schwere der Gefahrensituation ausgeglichen werden könne, so dass sich von der Nähebeziehung absehen ließe (sog. übergesetzlicher entschuldigender Notstand).[54] Das Beispiel zeigt, dass der Grundgedanke eines „beweglichen“ Systems auch dem Strafrecht nicht vollständig fremd ist.
6. Abschnitt: Die Straftat› § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht› D. Strafrecht zwischen Systembindung und Willkür
D. Strafrecht zwischen Systembindung und Willkür
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Im Strafrecht reicht die Geschichte juristischer Systembildung weniger weit zurück als im Zivilrecht, dessen Überlieferungen sich bis zur Jurisprudenz Roms zurückverfolgen lassen.[55] Auch wenn Ansätze strafrechtlicher Systembildung in der Antike und in der frühen Neuzeit erkennbar sind, scheint hier eine durchlaufende Traditionslinie zu fehlen. Dabei ist gerade im Strafrecht eine rechtsstaatlich gebändigte Anwendung des Rechts von größter Bedeutung. Dies zeigt der Blick zurück auf Zeiten, in denen die Anwendung des Kriminalrechts derartigen Begrenzungen nicht unterlag. Besonders dramatisch waren die Zustände im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert. In einer älteren Studie dazu findet sich folgende Schilderung:
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