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Ob und gegebenenfalls wie Strafen die Normgeltung – oder Normakzeptanz – in der Bevölkerung tatsächlich sichern können, ist eine empirische Frage, die bislang nicht zufriedenstellend beantwortet ist. Deshalb ist es misslich, dass die Vertreter der Theorie des „Geltungsschadens“ ganz überwiegend auf der Grundlage der veralteten Konzeption von „Verhaltensnormen“ im Sinne Bindings argumentieren, und nicht die Nähe zu den modernen Sozialwissenschaften suchen, wo Konzepte wie „soziale Norm“ und „Normakzeptanz“ intensiv diskutiert werden.[16]
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Der „ideelle Verbrechensbegriff“, der in der Straftat lediglich eine negativ bewertete Form von Kommunikation mit den normerzeugenden Instanzen sieht, wird der Realität der durch Straftaten bewirken Verletzungen, ihren physischen und psychischen Folgen, nicht gerecht. Eine Vergewaltigung lässt sich nicht als eine negativ zu bewertende Kommunikation des Täters mit dem Staat (!) deuten, wenn nicht die Strafrechtstheorie jeden Anspruch auf Nachvollziehbarkeit und Akzeptanz ihrer Begriffsschöpfungen in der Bevölkerung aufzugeben bereit ist.[17] Im Ergebnis spricht deshalb wenig dafür, den auf „reale“ Güterverletzungen bezogenen gegenständlichen Verbrechensbegriffs der h.M. preiszugeben.
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In jüngerer Zeit ist vorgeschlagen worden, die Diskussion um das auf einem konkreten Verbrechensbegriff beruhende Straftatsystem zu einer Behandlung des „gesamten Strafrechtssystems“ zu erweitern.[18] Dahinter steht die Idee, die Debatte um Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld durch Gesichtspunkte u.a. aus der Kriminologie, dem Strafprozessrecht und dem Gerichtsverfassungsrecht zu ergänzen und gemeinsame Leitprinzipien herauszuarbeiten.[19]
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Die damit angedeutete Ausweitung des Blicks in andere Bereiche des Strafrechts ist sinnvoll, man sollte aber nicht übersehen, dass die Fokussierung der Straftatlehre auf die Strafrechtsdogmatik auch ihre Vorteile hat. Ein zu weit gefasstes System wird notwendigerweise unübersichtlich und vermag dann die oben Rn 3skizzierten rechtstaatlichen Gewinne möglicherweise nicht mehr zu erbringen.
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Zu beachten sind auch die grundlegenden methodologischen Unterschiede zwischen der Strafrechtsdogmatik und z.B. der Kriminologie (→ AT Bd. 1: Eric Hilgendorf , Strafrecht im Kontext der Normenordnungen, § 1 Rn. 71). Außerdem haben heute die Grundrechte und ihre Interpretation sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und die Methode der (an Grundrechten orientierten) Abwägung im Strafrecht eine erhebliche Bedeutung erlangt.[20] Auch sie müssten in einem „gesamten Strafrechtssystem“ berücksichtigt werden. Die Ausarbeitung eines solchen Systems stellt eine enorme wissenschaftliche Herausforderung dar; ob sich ein solches System praktisch bewähren würde, ist aus heutiger Sicht nicht absehbar.
III. Internationale Perspektiven
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Andere Rechtssysteme haben andere Gliederungen der Straftat entwickelt. So findet man im angelsächsischen Rechtskreis die Unterscheidung von „crimes“ und „defenses“, wobei die „defenses“ sowohl Rechtfertigungs- als auch Entschuldigungsgründe umfassen.[21] Auf der Prüfungsstufe „crime“ wird unterschieden zwischen „actus reus“ und „mens rea“,[22] was in etwa unserer Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand entspricht. Eine ausgefeilte Straftatlehre, die mit der deutschen vergleichbar wäre, fehlt jedoch. Nicht zu Unrecht wird dem US-Amerikanischen Strafrecht ein Mangel an Systematik bescheinigt.[23]
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Einflussreich war auch das viergliedrige sowjetische System, wonach zwischen dem „Objekt der Straftat“ und den „objektiven Tatumständen“ sowie dem „Subjekt der Straftat“ und den „subjektiven Tatumständen“ zu unterscheiden war.[24] Hinzu trat die „Sozialschädlichkeit“ der Tat als Instrument der Feinabstimmung und Ergebniskorrektur – aber auch als Einfallstor für richterliche Willkür und politische Einflussnahmen.[25] China übernahm in den 50er Jahren das sowjetische Modell. Sein Einfluss tritt dort jedoch seit einigen Jahren allmählich zugunsten des deutschen dreigliedrigen Aufbaus zurück.[26]
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Auch Japan[27], Taiwan und Südkorea orientieren sich am deutschen dreistufigen Aufbau, ebenso Spanien und das gesamte Lateinamerika, wobei in Brasilien nicht nur aus sprachlichen Gründen einige Besonderheiten gelten. Länder wie Estland, Georgien, Griechenland und die Türkei nutzen ebenfalls das dreistufige Modell. In der Gerichtspraxis dieser Staaten dient es aber eher als Referenzrahmen denn als zwingendes Aufbaumodell; dabei bestehen zwischen den einzelnen Rechtsordnungen und ihren jeweils tradierten Argumentationsstilen erhebliche Unterschiede.
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Auf der Grundlage des dreistufigen Straftataufbaus ist im Laufe der Jahre eine „internationale Strafrechtsdogmatik“ entstanden, die zwar auf dem deutschen dogmatischen System aufbaut, dieses jedoch mehr und mehr hinter sich lässt und inzwischen eine bemerkenswerte Eigenständigkeit entwickelt hat.[28] Viele hervorragende Beiträge dazu werden heute in spanischer Sprache verfasst. Aber auch mit der japanischen, südkoreanischen und Teilen der chinesischen Strafrechtswissenschaft sind der deutschen Strafrechtsdogmatik heute Partner auf Augenhöhe erwachsen (→ AT Bd. 1: Hilgendorf , § 18 Rn. 119 f.).
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Ein gestufter, klar strukturierter Straftataufbau besitzt enorme theoretische wie praktische Vorteile (siehe oben Rn. 3). Man sollte aber, einem Vorschlag Ingeborg Puppes folgend, das Vorgehen des Strafjuristen nicht mit einem „Baumeister“[29] vergleichen, „der ein Gebäude beginnend mit dem Fundament und den tragenden Bauelementen bis hin zum Dachfirst Stein für Stein errichtet“. Eher passt der Vergleich mit einem am Mikroskop arbeitenden Biologen: „Der betrachtet sein Objekt zunächst unter einer geringen Vergrößerung, um zu erkennen, wonach er im Einzelnen zu suchen hat. Dann wählt er die Vergrößerung immer größer, das Raster immer feiner, bis er das Objekt in allen seinen Einzelheiten vor sich hat“.[30] Damit wird die Hauptaufgabe des Verbrechensaufbaus, nämlich seine Verwendung als Analyse- und Strukturierungsinstrument, anschaulich auf den Punkt gebracht.
6. Abschnitt: Die Straftat› § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht› B. Methodologische Orientierung
B. Methodologische Orientierung
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Grundbegriff der deutschen Straftatlehre ist der Begriff der „strafbaren Handlung“.[31] Der Begriff wird aufgespalten in die bekannte Stufenfolge Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld. Diese Stufen bilden die Kernelemente des deutschen Straftatsystems, sie liegen außerdem der Fallprüfung zugrunde. Schon der Ansatz beim Handlungsbegriff macht deutlich, warum bei der Auseinandersetzung mit dem dreistufigen Straftatmodell Fragen der Begriffsbildung so wichtig sind.
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Das Problem wissenschaftlicher Begriffsbildung wird in der juristischen Methodenlehre und der Rechtstheorie selten behandelt, obwohl es für Rechtsdogmatik wie Rechtspraxis von größter Bedeutung ist.[32] Sind uns die Begriffe, die wir bei der juristischen Arbeit verwenden, bindend vorgegeben, so dass wir sie nicht zu ändern vermögen? Oder verhält es sich so, dass Rechtswissenschaft und Rechtspraxis grundsätzlich frei sind, die Bedeutung der von ihnen verwendeten Begriffe festzulegen? Sind Begriffe lediglich menschliche Schöpfungen, sprachliche Zeichen, deren Inhalt von Menschen bestimmt wird? Oder sind Begriffe imstande, ein „Eigenleben“ zu führen, wie es etwa in der Hegel ’schen Dialektik[33] angenommen wird?
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Die damit angedeuteten Fragestellungen werden in der Sprachphilosophie und allgemeinen Wissenschaftstheorie häufig mit der Unterscheidung von begrifflichem „Naturalismus“ vs. „Konventionalismus“ zu erfassen gesucht. Für den Naturalismus gibt es eine „von Natur“ vorgegebene Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Auch wenn diese Position unbewusst nach wie vor eine große Rolle spielt,[34] kann sie doch als sprachphilosophisch überholt gelten. Die auch hier zugrunde gelegte Gegenposition zum sprachphilosophischen Naturalismus nimmt der „Konventionalismus“ ein. Die Bedeutung sprachlicher Zeichen beruht danach auf Konvention, also einer Übereinkunft der den Begriff verwendenden Personen. Eine „naturgegebene“ Bedeutung eines Begriffs oder eines Ausdrucks gibt es nicht.
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