64
In der Auseinandersetzung mit der historischen Genese des heutigen Straftatbegriffs spielen argumentative Klischés eine bemerkenswerte Rolle. So wird der „Naturalismus“ von Liszts , Belings und Radbruchs als mehr oder weniger unreflektierte Orientierung an einer naturwissenschaftlichen Begriffsbildung verstanden, und sodann das vermeintlich „bloß naturwissenschaftliche“ Begriffsverständnis von einer vermeintlich höheren rechtswissenschaftlichen Warte aus abgelehnt.[123] Damit dürften allerdings, wie oben Rn. 46 ff.zu zeigen versucht wurde, die Einflüsse, die gerade von Liszt zu seinem Systematisierungsentwurf bewogen haben, kaum angemessen beschrieben sein. Von Liszt war wie nur wenige Juristen seiner Zeit vom neuen naturwissenschaftlichen Weltbild, welches man als „Naturalismus“ bezeichnen mag, geprägt; dies bedeutet jedoch nicht, dass er versucht hätte, bei den Naturwissenschaften unreflektiert terminologische Anleihen zu machen. Vielleicht wäre es klarer, bei von Liszt statt von einem „Naturalismus“ von einem Bekenntnis zur „wissenschaftlichen Weltanschauung“ zu sprechen.[124]
65
In der Auseinandersetzung um „Naturalismus“ und „Normativismus“ verdient ein Vorschlag von Karl Engisch Interesse, der bereits in den späten 40er Jahren versucht hat, die Eigenart der juristischen Begriffsbildung zwischen der Skylla eines unreflektierten „Naturalismus“ und der Charybdis eines reinen „Normativismus“ präziser herauszuarbeiten.[125] Um Fälle und ihre Besonderheiten unter Rechtsnormen subsumieren zu können, müssen die in den Gesetzen verwendeten Begriffe ausgelegt, also analysiert und gelegentlich präzisiert werden. Engisch weist darauf hin, dass der Jurist „die Begriffe immer nur bis zu einem gewissen Grade [zerlegt], er bleibt bei seinen Subdefinitionen bei Begriffen stehen, die in der Praxis der Gedankenübermittlung als gültige Münze umlaufen, die für das alltägliche Verständnis genügend deutlich sind“.[126] Die Begriffsbildung der Juristen ist also an das lebensweltliche Verständnis der Begriffe, an den allgemeinen Sprachgebrauch, gebunden.
66
Dagegen ist es eine Eigenart des „Normativismus“ ( Engisch verweist in diesem Zusammenhang auf Hans Kelsen und dessen Konzeption von „juristischer Person“), „ein von allen natürlichen Vorstellungen abgesondertes spezifisch juristisches Weltbild zu entwickeln“[127] und, so wird man ergänzen dürfen, damit auch eine vom natürlichen Sprachgebrauch vollkommen losgelöste Terminologie. Den „Naturalismus“ kennzeichnet Engisch dadurch, dass dieser versucht habe, „die rechtswissenschaftlichen Begriffe durch spezifisch naturwissenschaftliche zu erläutern und damit das Weltbild des Juristen in das des Naturforschers ausmünden zu lassen.“[128] Engisch spricht hier zu Recht von einer Orientierung an den Naturwissenschaften, nicht aber von unkritscher Übernahme ihrer Begrifflichkeit. Das Recht, so wird man Engischs Position zusammenfassen dürfen, ist bei seiner Begriffsbildung eigenständig, orientiert sich aber eng am lebensweltlichen Sprachgebrauch.
67
Es liegt auf der Hand, dass der Übergang von einer (für die juristische Praxis typischen) Orientierung am lebensweltlichen Begriffsverständnis zum Normativismus einerseits und zum Naturalismus andererseits gleitend ist. In jeder begrifflichen Präzisierung steckt ein Element des Normativismus, und die naturwissenschaftliche Begriffsbildung[129] (die übrigens in ihren Einzeldisziplinen durchaus unterschiedlich verlaufen kann) setzt offenkundig beim „natürlichen“ Sprachgebrauch an. Aber auch die Natur- und empirischen Sozialwissenschaften präzisieren ihre Begriffe nach ihren fachspezifischen Bedürfnissen und schaffen durch Definitionen neue Begrifflichkeiten, die ihren jeweiligen Erkenntniszielen dienen.
68
Will man die Entwicklung der Straftatlehre seit von Liszt und Beling zusammenfassend deuten, so lassen sich zwei Faktoren angeben: zum einen eine immer weiter zunehmende Differenzierung des strafrechtsdogmatischen Analysesystems,[130] die die Strafrechtsgelehrten vor die (alles in allem bemerkenswert gut bewältigte) Aufgabe stellte, die Systematik praxistauglich, aber auch widerspruchsfrei zu gestalten, und zum anderen die zunehmende Einsicht, dass uns unsere Begriffe und ihre systematische Anordnung nicht ein für allemal vorgegeben sind, sondern auf menschlichen Setzungen beruhen. Dies bedeutet, dass die Begriffe der Strafrechtsdogmatik nach (kriminal-)politischen Zwecken gestaltet werden können[131] und im grundrechtsgebundenen Staat der Gegenwart[132] auch gestaltet werden müssen.
6. Abschnitt: Die Straftat› § 27 System- und Begriffsbildung im Strafrecht› F. Zur systematischen Trennung von Unrecht und Schuld
F. Zur systematischen Trennung von Unrecht und Schuld
69
Oben ( Rn. 3) wurde das „Standardmodell“ des Verbrechensaufbaus als Abfolge der Konzepte Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld angegeben. Bereits vor über 50 Jahren bezeichnete Welzel diese Gliederung des Verbrechens als „den wichtigsten dogmatischen Fortschritt der letzten zwei bis drei Menschenalter“.[133] Die beiden ersten Stufen lassen sich unter der Bezeichnung „Unrecht“ zusammenfassen.[134] Die Unterscheidung zwischen Unrecht und Schuld wird in der deutschsprachigen Strafrechtswissenschaft heute fast allgemein anerkannt,[135] auch wenn die Abgrenzung im Detail lange Zeit höchst umstritten war.[136] Sie ist darüber hinaus eines der kennzeichnenden Merkmale der neuen internationalen Strafrechtswissenschaft (→ AT Bd. 1: Eric Hilgendorf , Die deutsche Strafrechtswissenschaft der Gegenwart, § 18 Rn. 112 f.; 119 f.). Jescheck und Weigend nennen sie geradezu den „Angelpunkt der Verbrechenslehre“.[137]
70
Auch in der Rechtsprechung ist die Unterscheidung von Unrecht und Schuld eine Selbstverständlichkeit geworden, zumal das Gesetz den Unterschied an mehreren Stellen explizit anspricht, etwa in den Vorschriften über die Teilnahme, §§ 26 und 27. Auch die Definition der „rechtswidrigen Tat“ in § 11 Abs. 1 Nr. 5 lässt sich dahingehend interpretieren, dass der deutsche Gesetzgeber vom Leitmodell eines Straftatsystems mit der Grundunterscheidung von Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld ausgeht. Auf der Ebene des Tatbestands wird der Unrechtstyp umschrieben, dessen Verwirklichung mit Strafe bedroht ist, auf der zweiten Ebene, der Rechtswidrigkeit, wird geprüft, ob die Verwirklichung des Unrechtstyps ausnahmsweise gerechtfertigt ist. Ist dies nicht der Fall, so liegt „Unrecht“ vor. Auf der dritten Analyseebene werden die Besonderheiten des jeweiligen Täters in den Blick genommen und überprüft, ob man die – aus allgemeiner Perspektive unrechtmäßige – Tat dem Individuum vorwerfen kann. Dies meint das Schlagwort von der „Schuld als Vorwerfbarkeit“.
71
Wie bei einer so grundlegenden Frage nicht anders zu erwarten, sind jedoch die kritischen Stimmen nie ganz verstummt, die der Unterscheidung von Unrecht und Schuld die Gefolgschaft versagen oder sie zumindest theoretisch anders fassen wollen als die h.M.[138] Die Kritiker argumentieren fast durchweg auf einem sehr hohen rechtstheoretischen Niveau, was der Rezeption ihrer Vorschläge in der juristischen Ausbildung, aber auch in der juristischen Praxis nicht zuträglich ist. In einer offenen, lebendigen Wissenschaft bedürfen jedoch auch die Grundlagen permanenter Kritik und argumentativer Auseinandersetzung. Dies gilt gerade dann, wenn man, wie hier, begriffliche Inhalte nicht als ein für allemal vorgegeben ansieht, sondern als Festlegungen, die sich praktisch bewähren, aber auch scheitern können und dann durch bessere Konzepte ersetzt werden sollten.
Читать дальше