I. Die Kritik Michael Pawliks
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Einer der entschiedensten Kritiker der Unterscheidung von Rechtswidrigkeit und Schuld ist Michael Pawlik . Er bestreitet, dass zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen ein „kategorialer verbrechenstheoretischer Unterschied“ bestehe: „Weder der gerechtfertigte noch der entschuldigte Zerstörer fremder Güter stellt mit seinem Tun die Normgeltung in Frage – der gerechtfertigte Täter nicht, weil das Ausmaß der Konfliktzuständigkeit des Eingriffsadressaten so beträchtlich ist, dass allein der Verweis darauf den Eingriff legitimiert; der entschuldigte Täter nicht, weil ihm angesichts der Außergewöhnlichkeit seiner Situation die Beachtung seiner sich aus der gegebenen Zuständigkeitsverteilung ergebenden Handlungsbefugnisse nicht zugemutet werden“ könne. Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe seien daher „systematisch gleichrangige Gestalten des Zurechnungsausschlusses“, und „lediglich aus Zweckmäßigkeitsrücksichten hintereinander abzuarbeiten“.[139]
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Auf den ersten Blick ergibt sich daraus kein wesentlicher Unterscheid zur h.M., zumal der theoretisch nicht sonderlich interessierte praktizierende Jurist die Differenzierung zwischen Unrecht und Schuld wohl ebenfalls lediglich aus Zweckmäßigkeitserwägungen und aus Gewohnheit, jedenfalls in Unkenntnis der Dogmengeschichte und der in ihr widerstreitenden Theoriekonzeptionen befolgt. Aus einer rein rechtspraktischen Sicht ist die Frage, ob es sich bei Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen um „systematisch gleichrangige Gestalten des Zurechnungsausschlusses“ handelt oder nicht, ohne größere Bedeutung, wenn sie nur wie bisher hintereinander abzuarbeiten und bei der Strafrechtsanwendung differenziert zu betrachten sind.[140]
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Deutlich größer werden die Differenzen, wenn man eine stärker theoretische Perspektive zugrunde legt.[141] Ein wesentlicher Unterschied zwischen Pawlik und der h.M. besteht in der zugrunde gelegten Theorie des Verbrechens. Pawlik lehnt sowohl die Ausrichtung des Strafrechts auf Prävention als auch die Rechtsgüterlehre ab und präferiert stattdessen die an Hegel orientierte Vorstellung, eine Straftat müsse „vorrangig als Angriff auf die rechtlich verfasste Daseinsordnung von Freiheit – in der Terminologie Hegels gesprochen: als Verletzung des Rechts auf Recht[142] – begriffen werden.“[143] Eine auf Prävention abzielende Perspektive könne allenfalls die Rechtswidrigkeit erfassen, dagegen sei „ein Schuldverständnis, das Schuld als Vorwerfbarkeit … versteht, mit einer präventionstheoretischen Strafbegründung nicht vereinbar.“[144]
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Pawlik kritisiert offenbar weniger die Unterscheidung von Unrecht und Schuld als vielmehr die (auch hier vertretene, → AT Bd. 1: Hilgendorf , § 1 Rn. 124) Zweckbestimmung von Strafe als Instrument der Kriminalitätsprävention. Ihm ist darin Recht zu geben, dass viele Vertreter der h.M. nicht konsistent argumentieren, wenn sie einerseits das Institut „Strafe“ mit Präventionsgesichtspunkten legitimieren, andererseits aber am überkommenen Schuldgedanken festhalten wollen, der wesentlich vom Vergeltungsgedanken und seinen rechtsphilosophischen Ausarbeitungen geprägt ist.[145] Der damit angedeutete Spannungsbogen lässt sich jedoch auch so auflösen, dass man ein konsequent präventionsorientiertes Schuldverständnis entwickelt,[146] die Schuld also zuzusagen auf die Seite des Präventionsdenkens zieht, und nicht das Unrecht auf die Seite der Vergeltungstheorie. Auch aus der Perspektive der Prävention ließen sich Unrecht und Schuld also unter das Dach einer Theorie bringen.
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Unklar ist, ob die von Pawlik vertretene Ablehnung der Rechtsgüterlehre zugunsten eines kollektivistischen, neo-etatistischen Strafbegründungsmodells zwingend mit seiner Position zur anzustrebenden Einheit von Unrecht und Schuld sub specie Vergeltungstheorie der Strafe verbunden ist. Er räumt selbst ein, dass seine „Auffassung, die in der Begehung einer Straftat die Verletzung einer Pflicht zur Mitwirkung an der Aufrechterhaltung der bestehenden Daseinsordnung von Freiheit“ sieht, darauf hinausläuft, Delikte gegen die Person zu Straftaten gegen die Allgemeinheit umzudeuten“.[147] Eine derartige Umdeutung wurde bekanntlich auch zu Zeiten des Nationalsozialismus betrieben.[148] Die Auflösung des Individualschutzes zugunsten eines begrifflich abstrakt gefassten allgemeinen Freiheitsschutzes droht den Schutz der realen und konkreten Freiheit des Einzelnen zu unterminieren.[149] Im freiheitlichen Rechtsstaat ist das Individuum, und nicht das Kollektiv, Träger von Grund- und Menschenrechten und bedarf deshalb des strafrechtlichen Schutzes. Da hilft es wenig, darauf hinzuweisen, dass aus der neo-etatistischen Perspektive jedenfalls theoretisch gesehen sämtliche Straftaten auch Delikte gegen die Person sind.[150]
II. Die Kritik Wolfgang Frischs
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Auch Wolfgang Frisch hat sich für einen Umbau des Straftatsystems ausgesprochen.[151] Er möchte zwar an der Abfolge von Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld nichts Grundsätzliches ändern,[152] plädiert jedoch dafür, zusätzlich die Abweichung von der jeweiligen Verhaltensnorm als freilich noch näher auszuarbeitende Systemkategorie einzuführen. Er fordert deshalb die Formulierung von „klar umrissene[n], auf den Zeitpunkt des Handelns bezogene[n] Verhaltensnormen“.[153] Ein differenziertes, „auf die Perspektive des handelnden Bürgers“ zugeschnittenes „System von Verhaltensnormen“, welches dem Bürger „unter Berücksichtigung des vor der Handlung verfügbaren Wissens sagt, ob und unter welchen (ex ante gegebenen bzw. feststellbaren) Voraussetzungen ein Handeln im Blick auf den etwaigen Eintritt des tatbestandlichen Erfolgs prinzipiell verboten oder generell erlaubt ist“[154] wäre in der Tat schon im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz wünschenswert.[155]
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Gegen Frischs Vorschlag lassen sich freilich auch Bedenken vorbringen: Eine auch nur einigermaßen präzise Ausarbeitung von relevanten „Verhaltensnormen“ dürfte gar nicht möglich sein, weil sich die in der Realität auftretenden Fallgestaltungen nicht voraussagen lassen. Das bisherige, am Rechtsgüterschutz orientierte Modell einer Verhaltensnorm – „Verletze nicht das Leben!“, „Verletze nicht die körperliche Unversehrtheit!“, usw.[156] – ist zwar ungenau, erlaubt dem handelnden Bürger aber doch in fast allen Einzelfällen eine Orientierung.[157] Die Ausarbeitung des genauen Inhalts der den Sanktionsnormen des StGB zugrundeliegenden Handlungsnormen ist Aufgabe der Rechtswissenschaft und letztlich der entscheidenden Gerichte, die in Zweifelsfällen festzustellen haben, was dem Akteur im Einzelfall geboten war und was nicht. Diese Regeln sozusagen a priori zu explizieren und festzuschreiben dürfte gar nicht möglich sein. Ein solches System von Verhaltensnormen wäre außerdem so kompliziert, dass es für den Bürger nicht mehr nachvollziehbar wäre und deshalb auch nicht handlungsleitend wirken könnte.[158] Dies dürfte durchaus in einem Spannungsverhältnis zu Art. 103 Abs. 2 GG stehen; anschaulich spricht Jäger in einem anderen Zusammenhang von „Unterbestimmtheit durch Überbestimmtheit“.[159]
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Des Weiteren regt Frisch an, eine neue eigenständige Systemkategorie zu schaffen, in der thematisiert wird, ob durch das Täterverhalten das Recht überhaupt in Frage gestellt wurde.[160] Damit soll geklärt werden, ob bzw. inwieweit es erforderlich ist, auf die entsprechende Tat mit Strafe zu reagieren.[161] Als Beispiel für eine im Rahmen dieser Kategorie zu behandelnde Fragestellung nennt Frisch den freiwilligen Rücktritt vom Versuch.[162]
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