467
Änderung der Geschäftsgrundlage.Anknüpfungspunkt der Vertragsanpassung ist die Änderung der für die Festsetzung des Vertragsinhalts maßgebend gewesenen Verhältnisse (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG). Die Geschäftsgrundlage „wird gebildet durch die nicht zum eigentlichen Vertragsinhalt erhobenen, bei Vertragsabschluß aber zutage getretenen gemeinsamen Vorstellungen beider Vertragsparteien oder die dem Geschäftsgegner erkennbaren und von ihm nicht beanstandeten Vorstellungen der einen Vertragspartei von dem Vorhandensein oder dem künftigen Eintritt gewisser Umstände, auf denen der Geschäftswille der Parteien sich aufbaut“[1009]. Der betreffende Umstand kann tatsächlicher oder rechtlicher Natur sein.[1010]
Beispiele:
1. |
Der Betreiber eines Mobilfunknetzes und das (damalige) Bundesamt für Post und Telekommunikation regelten 1993 in einem öffentlich-rechtlichen Vertrag die Kostenerstattung der von der Behörde vorzunehmenden Begutachtung von Basisstationen für Richtfunkstrecken. Zum 1.9.1997 trat die Telekommunikationszulassungsverordnung in Kraft, die eine bislang nicht bestehende Gebührengrundlage für diese Amtshandlung schuf. Das Inkrafttreten der normativen Gebührengrundlage ließ die in der Annahme des Fehlens einer normativen (Gebühren-)Regelung liegende Geschäftsgrundlage entfallen.[1011] |
2. |
Die Nachbarklage gegen die Baugenehmigung zur Errichtung einer LKW-Abstellhalle wurde von den Beteiligten 1977 durch einen Vergleich beendet, der u.a. die Verpflichtung enthielt, zwischen 22 und 6 Uhr das Grundstück nicht mit LKW zu befahren. Nach Betriebserweiterungen und der Errichtung einer Schallschutzwand, die eine vollständige akustische Trennung der Nachbargrundstücke zur Folge hatte, klagte der Speditionsbetrieb erfolgreich auf Vertragsanpassung mit dem Ziel, das nächtliche Betriebsverbot aufzuheben, da sich die tatsächlichen baulichen Verhältnisse mit Blick auf den Lärmschutz für das Nachbargrundstück wesentlich geändert hatten.[1012] |
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Unzumutbarkeit.Die Änderung der Geschäftsgrundlage muss so wesentlich sein, dass einer Vertragspartei das Festhalten am vereinbarten Vertragsinhalt nicht zumutbar ist (vgl. § 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG). Hierfür genügen weder die Realisierung des normalen Vertragsrisikos noch der Umstand, dass der Vertragsschluss nicht mehr der gegenwärtigen Interessenlage der Vertragspartei entspricht und sie den Vertrag deshalb vernünftigerweise nicht mehr oder zumindest nicht mehr mit dem ursprünglich vereinbarten Inhalt abschließen würde.[1013] Prüfungsmaßstab ist die Frage, ob „die Änderung der für den Vertragsinhalt maßgeblichen tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse zu schwerwiegenden, bei Vertragsschluss nicht absehbaren Nachteilen für die Vertragspartei geführt hat, denen die Vertragspartner billigerweise Rechnung getragen hätten, wenn sie die Entwicklung vorhergesehen hätten. Die Folgen der nachträglichen Änderung müssen also den Risikorahmen überschreiten, den ein Vertragspartner nach Treu und Glauben hinzunehmen hat […]. Dabei ist nicht auf das subjektive Empfinden der Vertragspartei abzustellen, sondern ein objektiver Maßstab zugrunde zu legen“[1014]. Anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls ist also eine Risikoabwägung vorzunehmen, bei der sich ein solch eklatantes Missverhältnis zwischen den vereinbarten Leistungspflichten auftun muss, dass der betroffene Vertragspartner bei einem Festhalten an der ursprünglichen Vereinbarung seine berechtigten Interessen annähernd nicht mehr gewahrt sehen kann.[1015] Die wesentliche Änderung der Geschäftsgrundlage muss kausal für die Unzumutbarkeit des Festhaltens am Vertrag sein.
469
Anpassung.Liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 VwVfG vor, kann der Vertragspartner, dem das Festhalten am Vertrag nicht mehr zumutbar ist, die Anpassung des Vertragsinhalts an die geänderten Verhältnisse verlangen (§ 60 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 VwVfG). Es besteht also kein Anspruch auf Anpassung irgendeiner vertraglich vereinbarten Leistungspflicht. Vielmehr muss sich das Anpassungsverlangen auf eine solche Leistungspflicht beziehen, hinsichtlich derer durch die wesentliche Änderung der Geschäftsgrundlage ein eklatantes Missverhältnis entstanden ist.
470
Kündigung.Die von der wesentlichen Änderung der Geschäftsgrundlage nachteilig betroffene Vertragspartei kann den Vertrag kündigen, wenn die Vertragsanpassung entweder unmöglich oder sie einer, nicht notwendigerweise der von der Störung der Geschäftsgrundlage nachteilig betroffenen Vertragspartei unzumutbar ist (§ 60 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 VwVfG).
471
Der Behörde steht daneben ein selbstständiges Kündigungsrecht aus § 60 Abs. 1 Satz 2 VwVfG unter der Voraussetzung zu, dass die Kündigung der Verhütung oder Beseitigung schwerer Nachteile für das Gemeinwohl dient.[1016] Als außerordentliches Kündigungsrecht ist § 60 Abs. 1 Satz 2 VwVfG restriktiv anzuwenden.[1017]
472
Die Kündigung ist vorbehaltlich einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen anderen Form schriftlich zu erklären (§ 60 Abs. 2 Satz 1 VwVfG). Sie soll begründet werden (§ 60 Abs. 2 Satz 2 VwVfG), so dass auf die Begründung nur in begründeten Ausnahmefällen verzichtet werden darf.[1018] Fehlt die Begründung, lässt dies die Wirksamkeit der Kündigung unberührt.[1019]
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Treu und Glauben.Die Ausübung des Gegenrechts aus § 60 VwVfG kann durch das Gebot von Treu und Glauben verwehrt sein.[1020]
D. Handlungsformen und Entscheidungen im Verwaltungsverfahren› III. Der öffentlich-rechtliche Vertrag › 8. Unterwerfung unter die sofortige Vollstreckung (§ 61 VwVfG)
8. Unterwerfung unter die sofortige Vollstreckung (§ 61 VwVfG)
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Regelungsgehalt.§ 61 VwVfG bietet die Möglichkeit für jeden Vertragschließenden, sich der sofortigen Vollstreckung aus einem Vertrag zu unterwerfen. Eine Begrenzung auf eine bestimmte Art des vertraglich vereinbarten Anspruchs ist nicht vorgesehen (vgl. demgegenüber § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO). Mit § 61 VwVfG hat der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung getragen, dass ein wirksamer Verwaltungsvertrag anders als ein Verwaltungsakt kein Vollstreckungstitel ist, eine Vollstreckung also nicht unmittelbar aus dem Vertrag erfolgen darf.[1021]
475
Keine Durchsetzung durch Verwaltungsakt.Ebenso folgt aus § 61 VwVfG, dass die Behörde die vertraglich begründeten Gegenleistungspflichten ggf. gerichtlich mit der allgemeinen Leistungsklage durchsetzen muss. Der Erlass eines auf die Erfüllung der Vertragspflicht gerichteten Verwaltungsakts ist ihr verwehrt, wenn sie hierzu nicht durch eine gesetzliche Grundlage ermächtigt ist (Verwaltungsakt-Verbot).[1022]
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Anwendungsbereich.Die Beschränkung des Anwendungsbereichs des § 61 VwVfG auf subordinationsrechtliche Verträge i.S.d. § 54 Satz 2 VwVfG ist eine bewusste gesetzgeberische Entscheidung.[1023] Eine analoge Anwendung auf koordinationsrechtliche Verträge scheidet daher aus; dort besteht allerdings die Möglichkeit zur Unterwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung nach Maßgabe des § 794 Abs. 1 Nr. 5 ZPO.[1024]
477
Form.Die Unterwerfungserklärung kann sowohl in dem betreffenden Verwaltungsvertrag als auch gesondert abgegeben werden.[1025] Außer dem Erfordernis, dass die Behörde von dem Behördenleiter, seinem allgemeinen Vertreter oder einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes, der die Befähigung zum Richteramt hat oder die Voraussetzungen des § 110 Satz 1 DRiG erfüllt (§ 61 Abs. 1 Satz 2 VwVfG), stellt das Gesetz keine weiteren formalen Anforderungen auf. Wegen der weitreichenden Folgen der Unterwerfung unter die sofortige Vollstreckung muss die Unterwerfungserklärung eindeutig und ausdrücklich sowie schriftlich i.S.d. § 57 VwVfG erklärt werden.[1026]
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