272
Das BVerfG hat immerhin die Grundrechtsberechtigung nach Art. 19 Abs. 3 GG auf juristische Personen mit Sitz im EU-Ausland erweitert.[73] Diese Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes sei aufgrund des Anwendungsvorrangs der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Art. 26 Abs. 2 AEUV) und des allgemeinen Diskriminierungsverbots wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) veranlasst. Das BVerfG[74] ließ hingegen offen, ob sich eine Beschwerdeführerin als ausländische juristische Person (Gesellschaft nach US-amerikanischem Recht) auf die Verletzung eigener verfassungsmäßiger Rechte berufen kann.[75]
273
Unerheblich ist im Übrigen die Staatsangehörigkeit der hinter der juristischen Person stehenden Personen, so dass auch eine von Ausländern beherrschte Gesellschaft mit Sitz in der BRD beschwerdefähig ist. Im umgekehrten Fall der deutschen Staatsangehörigkeit der hinter der juristischen Person stehenden natürlichen Personen mit Auslandssitz soll das aber nicht zur Grundrechtsfähigkeit führen.[76]
ee) Sonderfall: Justizgrundrechte
274
Alle juristischen Personen – also auch solche des öffentlichen Rechts wie Gemeinden oder Kammern bzw. solche mit Sitz im Ausland[77] – sind im Verfassungsbeschwerdeverfahren (partiell) beteiligtenfähig bei einer Berufung auf die Justizgrundrechte wie z.B. der Art. 101 Abs. 1 S. 2, 103 Abs. 1 GG.[78] Diese Bestimmungen enthalten objektive Verfahrensgrundsätze, die jedem zugutekommen müssen, der nach den einfachgesetzlichen Verfahrensnormen parteifähig ist oder von dem Verfahren unmittelbar betroffen wird.[79]
275
Beispiel
Eine Gemeinde kann im Wege der Individualverfassungsbeschwerde gegen eine fachgerichtliche Entscheidung zulässigerweise die Verletzung von Prozessgrundrechten wie z.B. des Art. 103 Abs. 1 GG rügen. Es schützt sie auch das Recht auf ein faires Verfahren i.V.m. der Rechtsweggarantie davor, dass der Zugang zu einer vom Gesetzgeber eröffneten weiteren Instanz durch die Fachgerichte in unzumutbarer Weise erschwert wird.[80]
6› II› 2. Prozessfähigkeit
276
In der Regel wirft die Frage der Prozessfähigkeit, also der Fähigkeit, Prozesshandlungen selbst oder durch bestellte Vertreter vornehmen zu lassen, im Verfassungsbeschwerdeverfahren keine besonderen Probleme auf. Derjenige, der sich auf Grundrechte berufen kann, ist meist auch beteiligten- und verfahrensfähig im Verfahren vor dem BVerfG.
277
Das BVerfGG enthält keine spezielle Regelung zur Prozessfähigkeit; sie bestimmt sich daher in Analogie zum sonstigen Prozessrecht.[81] Dabei kann aber nicht einfach auf die §§ 51 ff. ZPO zurückgegriffen werden. Maßgeblich sind vielmehr die Ausgestaltung der in Anspruch genommenen Grundrechte und deren Beziehung auf das im Ausgangsverfahren streitige Rechtsverhältnis.[82] Einschränkungen können sich aus spezialgesetzlichen Regelungen, im Hinblick auf das Fehlen der Einsichtsfähigkeit, bei Vermögensrechten sowie in Interessenkollisionsfällen ergeben.
278
Während im allgemeinen Prozessrecht die Altersgrenze von 18 Jahren gilt, enthält das BVerfGG keine entsprechende Regelung. Wegen der besonderen Eigenart der Verfassungsbeschwerde erkennt das BVerfG[83] in nicht gefestigter Rechtsprechung an, dass die Prozessfähigkeit ausnahmsweise vor der Schwelle der Volljährigkeit liegen kann. Da der im Schrifttum entwickelten Kategorie der „Grundrechtsmündigkeit“ keine verfassungsrechtliche Relevanz zukommt,[84] können auch Minderjährige[85] beteiligten- wie auch prozessfähig im Verfassungsbeschwerdeverfahren sein und als Beschwerdeführer auftreten.
c) Spezialgesetzliche Regelungen
279
Dies gilt erst recht, soweit ihnen nach einfachrechtlichen Bestimmungen Rechte gewährt werden; dann kommt auch Prozessfähigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren in Betracht. Als Beispiel sei erwähnt das Recht, über die Wahl des religiösen Bekenntnisses bereits im Alter von 14 Jahren zu entscheiden.[86]
280
Die Prozessfähigkeit kann fehlen, soweit nicht die erforderliche Einsichtsfähigkeit vorliegt, eine Grundrechtsverteidigung im Verfassungsprozess selbstverantwortlich vorzunehmen. Das ist für jedes Grundrecht gesondert und im Einzelfall zu prüfen.
281
Soweit eine Einsichtsfähigkeit gegeben ist, können sich daher auch ein minderjähriger Künstler, wie z.B. ein „Nachfolger des jungen Mozart“, der sich gegen ein polizeiliches Klavierspielverbot zu bestimmten Zeiten wehrt, oder der nicht volljährige Redakteur einer Schülerzeitschrift, der Zensurmaßnahmen der Schulverwaltung angreift, auf Grundrechte wie Art. 5 Abs. 3 oder Art. 5 Abs. 1 GG berufen, ohne sich durch die Eltern vertreten zu lassen.
282
In Fällen einer Betreuung oder Unterbringung wegen Geistesschwäche geht das BVerfG im Einklang mit der einfachen Rechtsordnung davon aus, dass die Prozessfähigkeit gegeben ist, soweit es um die wegen des Geisteszustandes zu treffenden Maßnahmen geht.[87]
283
Gleiches muss gelten zumindest für über 14-jährige Minderjährige für eine Verfassungsbeschwerde gegen Sorgerechtsentscheidungen angesichts der in diesem Alter bereits vorhandenen Einsichtsfähigkeit wie auch wegen der erheblichen Betroffenheit.[88] Ebenso kann Minderjährigen der Zugang zum BVerfG nicht versagt werden, wenn ein gesetzlicher Vertreter nicht willens oder in der Lage ist, Verfassungsbeschwerde zu erheben.[89] Es darf ihnen vor allem nicht zum Nachteil gereichen, dass die vertretungsberechtigten Eltern aus eigenen Interessen keine Verfassungsbeschwerde erheben.[90]
e) Wahrnehmung vermögenswirksamer Rechte
284
Soweit es um die Wahrnehmung vermögenswirksamer Rechte geht, sind nach dem BVerfG die Regelungen über die bürgerlich-rechtliche Geschäftsfähigkeit entsprechend heranzuziehen, da der nach dem BGB angenommene Mangel der geistigen Kräfte, bestimmte eigene Angelegenheiten zu besorgen, auch den Mangel der nötigen Einsicht in die Voraussetzungen und den Zweck der Verfassungsbeschwerde in solchen Angelegenheiten vermuten lasse.[91]
285
In Interessenkollisionsfällen muss u.U. ein Ergänzungs-[92] oder Verfahrenspfleger[93] nach dem FamFG bestellt werden: dies ist z.B. der Fall, wenn Kinder von getrennt lebenden Elternteilen (sei es auch zusammen mit einem Elternteil) in einem Sorgerechtsverfahren Verfassungsbeschwerde einlegen.
286
Nach dem BVerfG[94] ergibt sich aus der verfassungsrechtlichen Verankerung des Kindeswohls in Art. 6 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) die Pflicht, das Kindeswohl verfahrensrechtlich dadurch zu sichern, dass den Kindern bereits im familiengerichtlichen Verfahren ein Pfleger zur Wahrung ihrer Interessen zur Seite gestellt wird, wenn zu besorgen ist, dass die Interessen der Eltern in einen Konflikt zu denen ihrer Kinder geraten.
287
Beispiel
BVerfG FamRZ 2007, 2046:Erlass einer einstweiligen Anordnung, die Wirksamkeit eines gerichtlichen Beschlusses vorläufig auszusetzen, der den Eltern eines minderjährigen Kindes mit apallischem Syndrom mit hypoxischen Hirnschaden den Abbruch der künstlichen Ernährung erlaubt hat. Die angesichts der weder unzulässigen noch offensichtlich unbegründeten Verfassungsbeschwerde notwendige Folgenabwägung führe zum Erlass der in Prozessstandschaft für das minderjährige Kind vom Jugendamt beantragten einstweiligen Anordnung.
288
Für Beschwerdeführer, die durch eine Entscheidung in einem Verfahren belastet sind, an dem sie nicht beteiligt waren, läuft nach dem BVerfG[95] die Monatsfrist des § 93 BVerfGG erst mit ihrer Kenntnis. Hierfür ist bei den minderjährigen Beschwerdeführern die Kenntnis des Vertreters maßgeblich. Falls ein Ergänzungspfleger erforderlich war und dieser nach Einlegung der Verfassungsbeschwerde erst später bestellt wird, beginnt die Frist erst mit der Kenntnis des Ergänzungspflegers zu laufen.
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