Die neu gewonnenen Fähigkeiten, das Denken nicht nur in dyadischen Beziehungen, sondern auch das vieler anderer in Betracht zu ziehen, führen demnach zu einem kurzzeitigen Anstieg des Egozentrismus bzw. Narzissmus. Ganz entscheidend für eine rasche Auflösung des egozentrischen Durchgangsstadiums ist die Interaktion mit gleichaltrigen Freunden. Um bei den engen Freunden »bestehen« zu können, müssen Jugendliche schnell lernen, sich angemessen auf deren Gefühle einzustellen und über eigene Emotionen und die der Freunde angemessen zu kommunizieren, ohne jemand zu schädigen.
Wie in Kapitel 4 (
Kap. 4
) und 5 (
Kap. 5
) zu zeigen sein wird, verläuft die Selbst- und Identitätsentwicklung bei männlichen und weiblichen Jugendlichen unterschiedlich, sind unterschiedliche Faktoren bestimmend. In diesem Zusammenhang ist auch auf Unterschiede in der Hirnentwicklung hinzuweisen. So zeigt die Neurobiologie, dass insgesamt die Hirnentwicklung noch andauert, vor allem aber, dass ein Ungleichgewicht zwischen der Entwicklung limbischer Hirnregionen und Regionen des präfrontalen Kortex besteht (Schmidt & Weigelt, 2019). Das limbische System umfasst eine Gruppe tieferliegender Hirnstrukturen, die an der Verarbeitung emotionaler Inhalte und Gedächtnisprozesse beteiligt sind. Es wird am Beginn der Pubertät, mit etwa 10 bis 12 Jahren, noch aktiver und trägt damit zu den Stimmungsschwankungen bei. Demgegenüber beginnt die Reifung des präfrontalen Kortex, der für kognitive Funktionen wie Handlungsplanung, vorausschauendem Denken etc. zuständig ist, später. Diese zeitliche Diskrepanz erklärt teilweise das Risikoverhalten. Da sich der Beginn der körperlichen Reife immer mehr verfrüht, zugleich aber die Entwicklung des präfrontalen Cortex bis ins dritte Jahrzehnt andauern kann, entsteht ein immer größeres Zeitfenster des Ungleichgewichts, das es zu bedenken gilt.
3.3 Und wie geht’s weiter im jungen Erwachsenenalter?
Für Erikson war die Identitätsentwicklung noch zentral in der Adoleszenz zwischen den Polen Identitätssynthese, d. h. Integration von früheren Identitätsaspekten und Identifikationen aus der Kindheit, und Identitätskonfusion, Unfähigkeit, das Ganze zu einer kohärenten Identität zu integrieren. Die Forschung, die sich auf seine theoretische Konzeption bezog, machte dann aber in den folgenden Jahrzehnten deutlich, dass Veränderungen in der Identitätsentwicklung bei jungen Leuten eingetreten waren. Das zeigte sich besonders bei der Untersuchung der Identitätsentwicklung von jungen Erwachsenen.
3.3.1 Identität als Kombination von Exploration und Commitment
Auf der Basis der Identitätstheorie von Erikson entwickelten sich zahlreiche Ansätze zur empirischen Überprüfung, von denen der von Marcia der bekannteste ist. Zentral für seinen Ansatz sind die beiden Komponenten Exploration (in verschiedenen Identitätsbereichen) und Commitment (Festlegung in Richtung auf eine bestimmte Identitätsfacette in diesen Bereichen). Wie In Kapitel 2 (
Kap. 2) ausgeführt, sind dies tatsächlich auch in den meisten theoretischen Konzeptionen, die nach Erikson entstanden, die beiden wichtigsten Komponenten.
Wie in Kapitel 2 (
Kap. 2) beschrieben, unterscheidet die Statusdiagnostik nach Marcia (1966) vier verschiedene Identitätsstatus, die sich aus verschiedenen Mischungsverhältnissen von Exploration und Commitment ergeben, die Achieved Identity (erarbeitete Identität), Foreclosure (übernommene Identität), das Moratorium sowie eine diffuse Identität. Die später noch zu schildernde Meta-Analyse von Kroger et al. (2010) fand bei den 18-Jährigen erst bei 17 % eine erarbeitete Identität; ein erheblich größerer Prozentsatz befindet sich im Moratorium oder einem diffusen Stadium der Identität. Das Foreclosure-Stadium war nicht sehr häufig vertreten, weil es eine frühe Festlegung erfordert, wie sie beispielsweise bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen mit körperlichen Erkrankungen notwendig wird. In meinen eigenen Studien fand ich folgende Verteilung im Alter von 24 Jahren: Während 36 % der gesunden jungen Erwachsenen das Foreclosure-Stadium erreicht hatten, waren es bei an Diabetes erkrankten 51 % (Seiffge-Krenke, 2010). Dies unterstreicht, wie sehr Kontextbedingungen und persönliche Fähigkeiten und Möglichkeiten Einfluss auf das nehmen, was an Identitätsentwicklung möglich ist. Dieser Aspekt wird vor allem in den Kapiteln 9 (
Kap. 9
) und 10 (
Kap. 10
) aufgegriffen.
Wie bereits dargestellt, betrifft ein wichtiger Aspekt in Marcias Taxonomie die große Bedeutung explorativer Prozesse für eine gelingende Identitätsentwicklung. In seinen ersten Arbeiten sprach Marcia davon, dass zum Erreichen einer erarbeiteten Identität erst eine Moratoriumssequenz durchlaufen werden muss, und verwies damit ähnlich wie Erikson und andere analytische Autoren auf die große Bedeutung regressiver Phänomene für eine gelingende Identitätsentwicklung. Jugendliche befinden sich dieser Konzeption zufolge noch in einem sehr frühen Stadium der Identitätsentwicklung, wo eine Festlegung eher nicht erwartet wird, sondern noch viel im Fluss ist.
In den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass Weiterentwicklungen und speziell Differenzierungen des Explorationskonzepts vorzunehmen sind. Heutige Identitätskonzeptionen unterscheiden daher zwischen Exploration in die Tiefe und Breite – wobei die Exploration in die Breite neu ist – und dem Commitment, d. h. der Verpflichtung zu einem Identitätsentwurf. Zusätzlich wurde eine ruminative Komponente gefunden, ein Auf-der Stelle-Treten (Luyckxs et al., 2008a), wobei die Identitätsentwicklung im Bereich Beruf und Partnerschaft gleich langsam voranschreitet (Luyckxs, Seiffge-Krenke et al., 2014). Bemerkenswert sind Befunde, dass das diffuse Stadium weiter untergliedert wurde bei jungen Erwachsenen, in troubled and carefree diffusion (Luyckxs, Seiffge-Krenke et al., 2014), also jungen Leuten, die noch eine diffuse Identität haben, was sie aber nicht weiter stört, und solchen, die darunter leiden.
3.3.2 Auffallende Veränderungen in den letzten Jahren: Mehr Exploration, Instabilität und eine starke Selbstfokussierung bei jungen Erwachsenen
Jane Kroger und Mitarbeiter (2010) fassten die westliche Forschung mit mehr als 500 Querschnitts- und 150 Längsschnittstudien zu Marcias Identitätsparadigma zusammen. Die eingeschlossenen Studien wurden von 1971 bis 2004 veröffentlicht und deckten eine Altersspanne junger Menschen zwischen 11 und 35 Jahren ab. Ihre Meta-Analyse zeigte eine deutliche Verzögerung der Identitätsentwicklung im Vergleich zu den frühen Studien von Marcia und Mitarbeitern, aber auch einen kontinuierlichen Fortschritt hin zu ausgereifteren Stadien der Identität im jungen Erwachsenenalter.
In einer Übersicht über 500 Studien zum Identitätsparadigma, die auf der Konzeption und dem Interview von Marcia beruhen, konnten Jane Kroger et al. (2010) belegen, dass gegenwärtig nur rund 34 % der jungen Erwachsenen im Alter von 22 Jahren eine reife Identität aufweisen (Commitment nach ausreichender Exploration). Bei den über 30-Jährigen weisen 47 % eine reife Identität auf. Dies verdeutlich, dass dieser Prozess noch lange nicht abgeschlossen ist. Auf der Basis der 150 Längsschnittstudien konnten Kroger et al. (2010) des Weiteren nachweisen, dass Progression zweimal so wahrscheinlich ist wie Regression. Aus den Stadien des Moratoriums bzw. der Diffusion entwickelten sich also in den Folgejahren reifere Formen der Identität. Zugleich nahmen im Vergleich zu früheren Jahrzehnten die Prozentsätze von jungen Leuten ab, die gegenwärtig noch eine foreclosure identity, also eine ohne Exploration übernommene Identität der Eltern (z. B. im beruflichen Bereich: »Mein Vater war Schreiner, und ich werde das auch«) aufweisen. Dies belegt, dass die Identitätsentwicklung länger andauert und sich qualitativ gewandelt hat. Psychoanalytische Konzeptionen im Sinne einer pathologisch prolongierten Adoleszenz, die für frühere Jahrzehnte galten (Blos, 1954), sind heute nicht länger angebracht: Eine verlängerte, qualitativ veränderte Identitätsentwicklung ist inzwischen eine normative Entwicklung geworden. Diese Studien haben auch klargestellt, dass eine aktive Exploration normativ ist und keinesfalls als pathologisch anzusehen ist.
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