Eine andere, interessante Variante der Übungsformate findet sich in Bildungsstandards für das Fach Ethik, wie sie im Moment im Kontext des internationalen Projektes »ETiK« in Berlin entwickelt werden. Darin wird Urteils- und Reflexionskompetenz in pluralen Urteilsformen bildungstheoretisch ausgewiesen, in Teilkompetenzen differenziert und interkulturell pluralisiert (vgl. Benner/Nikolova 2016). Mit diesen Aufgabenformaten werden ältere behavioristische didaktische Modelle der Übung entscheidend modifiziert (vgl. Aebli 1985, Bönsch 2005). Mit ihnen können Prozesse beim Üben analytisch und graduell bestimmbar sowie Fehler didaktisch produktiv nutzbar werden.
Kompetenzorientierte Aufgabenformate übernehmen so eine wichtige Funktion in den Bildungsstandards und den angegliederten Leistungstests. Als didaktische Aufgaben im unterrichtlichen Interaktionsprozess eingesetzt, können mit ihnen Prozesse beim Üben analytisch und graduell bestimmbar sowie Fehler didaktisch produktiv nutzbar werden. Variationen können gezielt implementiert werden, um Reflexionen im Sinne von Selbstkorrektur zuzulassen. Diese z. T. sehr elaborierten Aufgabenformate können als Anzeichen für eine neue Aufmerksamkeit auf Üben und Übung gelten (vgl. Brinkmann 2014a). Damit werden ältere Konzepte der Übung entscheidend modifiziert. Jene orientierten sich noch an den von Thorndike vor über hundert Jahren aufgestellten behavioristischen »Gesetzen der Übung«, die in unterschiedlicher Reihenfolge und Gewichtung jeweils zusammengestellt werden (vgl. Bönsch 2005).
Gleichwohl erscheint sowohl in Forschung als auch in der pädagogischen Praxis eine pädagogische Theorie notwendig, die systematisch grundlegende Aspekte dieser elementaren Lernform zusammenführt, diese für Fächer und Fachdidaktiken nach deren eigener Logik spezifiziert und eine theoretische Modellierung für empirische Untersuchungen der pädagogischen Übung bereitstellt. Grundlagentheoretisch ist immer noch umstritten, was genau unter Üben zu verstehen ist und wie Üben funktioniert. Methodologisch ist ungeklärt, wie man Üben in allen seinen Facetten empirisch erfassen kann.
2.2 Aktuelle Probleme der Übungstheorie und Übungsforschung
Aus dem bisher Dargestellten ergeben sich drei Forschungsfelder der Übungsforschung.
1. Negativität: Enttäuschungen und Fehler im Üben
Der Blick auf den Prozess im Üben und die Erfahrungen darin macht deutlich, dass insbesondere Irritationen, Fehler, Scheitern und Enttäuschungen im Üben gesondert zu untersuchen sind. In der Erziehungswissenschaft geraten in letzter Zeit diese negativen Erfahrungen zunehmend in den Fokus der Forschung. Sie werden als wichtige und produktive Momente im Lernen und Üben gesehen (Oser/Spychiger 2005, Benner 2012, Meyer-Drawe 2008, Brinkmann 2012, Rödel 2018;
Kap. 1.3und 4). Sie sind zugleich eine didaktische Herausforderung für die Lehrenden. Über ein »Coaching« und »Scaffolding« hinaus (vgl. Reinmann et al. 2020) gilt es, die vielfältigen Formen negativer Erfahrung – die ›Störungen‹ und Widerstände, Irritationen und Enttäuschungen, das Vergessen, Scheitern, Fehlermachen – im pädagogischen Verhältnis edukativ abzufedern, zu gestalten und produktiv zu wenden. Dazu aber bedarf es einer Reflexion auf die Ziele der Übung (
Kap. 7) und einer pädagogischen Lerntheorie, die sich den eurozentrischen und logozentrischen Dualen entzieht, die leibliche, aisthetische und motorische Aspekte ebenso einbezieht wie geistige und vernünftige (
Kap. 5.1
). Negativität kann dann als elementare Erfahrungsstruktur im Üben bestimmt werden, die die Produktivität und Kreativität und zugleich die implizite Reflexivität des Übens hervorbringt. Zudem bedarf es weiterer Anstrengungen, empirisch negative Erfahrungen deskriptiv und rekonstruktiv zu erfassen (vgl. Rödel 2018).
2. Das Neue im Alten: Gewohnheit, Habitus und Transformation
Um Variation, Abweichung und die Umstrukturierung des Selbst- und Weltverhältnisses (also Umüben, Umlernen, Verlernen und Transformation;
Kap. 4) als Ausgriff auf Neues im Üben erfassen und gestalten zu können, muss die Zeitstruktur des Übens in den Blick rücken. Im Üben einer Sache, einer Fertigkeit oder eines Inhaltes werden Fertigkeiten wie Konzentration und Fehlertoleranz mitgeübt, wobei in der kognitivistischen Lerntheorie bisher ungeklärt ist, wie dies stattfindet und welche Reichweite diese haben (vgl. Mähler/Stern 2006). Auch in sozialtheoretischen Ansätzen ist von einer »Habitustransformation« die Rede (von Rosenberg 2011), mit der habitus und hexis als strukturierte und zugleich strukturierende Strukturen (vgl. Bourdieu 2014, S. 98 f.) verändert werden sollen. Die Fragen lauten hier: Wie kommt das Neue in das Alte, das Nicht-Gekonnte ins bestehende Können und das Nicht-Gewusste in das bestehende Wissen (
Kap. 5.2)?
Dazu bedarf es einer Neubewertung von Gewohnheit und Habitus, die aus dem Vorgriff der »theoretischen Vernunft« (Bourdieu) herausgelöst werden muss. Die erfahrungstheoretische Analyse kann zum einen den Dual auflösen, mit dem Gewohnheit und Habitus Veränderung, Lernen, Bildung und Transformation entgegengestellt werden. In Kapitel 3 werde ich im Blick auf das Üben in China zeigen, dass im wiederholenden Lernen und Üben vertiefte Einsichten und reflexives Verstehen möglich sind. In Kapitel 4 werde ich die produktiven Potenziale der Gewohnheitsbildung veranschaulichen und zeigen, dass ein Habituswandel oder gar eine Habitustransformation in übungstheoretischer und übungspraktischer Perspektive möglich werden kann. In Kapitel 5.2 werde ich deutlich machen, dass in der Wiederholung Potenziale der Veränderung liegen, die die Grundlage für eine »formierende« Transformation und Transposition im Üben bilden.
3. Eigensinn des Übens als leibliche und geistige Praxis
Eine grundlagen- und bildungstheoretische Bestimmung der Praxis des Übens ist notwendig, mit der Üben systematisch von anderen pädagogischen Praxen und Begriffen unterschieden wird. In den folgenden Kapiteln wird im Sinne eines systematischen Bestimmungsversuchs Üben von Lernen, Spielen und Repetieren unterschieden und in dessen Eigenlogik bestimmt (
Kap. 1und 4). Üben soll als eine besondere Lernform (vgl. Prange 2005) exponiert werden. Die sozialen und erzieherischen Anteile bezeichne ich als Übung. Diese werden in Kapitel 7.3 zur Didaktik der Übung systematisch herausgearbeitet und erläutert. Dies alles hat das Ziel, den Eigenwert des Übens als Etwas-üben und Sich-selbst-üben in seinen relationalen Perspektiven zu bestimmen. Das Einüben von Fertigkeiten, das Ausüben von Fähigkeiten und das ethische Sich-selbst-üben lassen die Vielschichtigkeit, Produktivität und Elementarität des Übens deutlich werden.
Im folgenden Kapitel zeigt der Blick auf die chinesische Kultur, dass hier, im Unterschied zum europäischen Dualismus, Üben und Lernen als miteinander verschränkte Praxen gesehen werden können (
Kap. 3). Mit dieser interkulturellen Perspektive kann einmal mehr deutlich werden, dass Üben keineswegs als sekundäre und nachgeordnete Lernform (miss-) zu verstehen ist.
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