1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Es lässt sich noch ein weiterer Aspekt dieses Unterschieds benennen: Spielen bewegt sich im »schönen Schein« (Schiller) und transzendiert darin die Wirklichkeit (vgl. Fink 1960). Die Praxis des Übens ist hingegen ein Handeln auf Probe. Im Unterschied zum »schönen Schein« des Spiels ist die Als-ob-Situation des Übens auf die Wirklichkeit bezogen. Sie ist darauf gerichtet, zu einem späteren Moment selbst Wirklichkeit zu werden und darin praktiziert zu werden. Hierin wird nicht die Wirklichkeit transzendiert, vielmehr erwächst aus dem Üben die Möglichkeit, dass sich die oder der Übende transzendiert, d. h. kultiviert, transformiert und darin ihr oder sein Selbst- und Weltverhältnis (Humboldt 1963b) verändert – mit anderen Worten: eine bildende Erfahrung macht (vgl. Buck 2019, Brinkmann 2019d).
1.7 Üben basiert auf Gewohnheit und Habitus
Geübt werden Fähigkeiten und Fertigkeiten. Es werden aber auch Gewohnheiten und Haltungen im Üben erworben. Als stetige Lernform der Wiederholung hat das Üben einen bewahrenden Charakter. In der Wiederholung werden bestehende Erfahrungen bestätigt und vertieft. Erfahrungen bewirken Sedimentierungen und Habitualisierungen als Handlungs- und Wahrnehmungsdispositionen (vgl. HUA VI, S. 56). Sie ermöglichen und schränken gleichermaßen künftiges und spontanes Handeln ein. In den meisten Theorien des Lernens und der Bildung aber haben Gewohnheiten und Habitus einen schlechten Stand. Sie werden entweder nicht berücksichtigt oder sie gelten als etwas, das »unterbrochen« oder überwunden werden soll. Sie werden aufgrund ihrer leiblichen und gesellschaftlichen Herkunft unter Verdacht gestellt und dualistisch einer »theoretischen Vernunft« (Bourdieu) entgegengestellt. Nur auf letztere könne sich Lernen, Bildung und Kognition verlassen – so eine seit Kant verbreitete, intellektualistische und moralische Argumentation, die sich auf die bis heute verbreitete Assoziationspsychologie stützt.
Buck (2019, S. 215 ff.) macht dies am Beispiel von Kant deutlich. Kants Theorie des Lernens basiert auf Autonomie, Subjekt und Bewusstsein – allesamt theoretische Vorannahmen, die in diesem Buch einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Wenn aber im Lernen, in Bildung und Erziehung »alles auf die bewusste Selbstbestimmung ankommt«, dann kann in der sozial und gesellschaftlich dimensionierten Gewohnheitsbildung nur Fremdbestimmung gesehen werden. Was Kant »den stupiden Mechanismus der Gewohnheit« nennt, ist Resultat einer Theorie des Lernens, die sich seit dem Empirismus des 18. Jahrhunderts am Begriff der Assoziation orientiert. Auch das »Geschehen der Assoziation« gilt als eine mehr oder weniger automatische, nicht-selbstständige und nicht-autonome Leistung (vgl. ebd., S. 216). Löst man Gewohnheitsbildung und Habitus aus dieser normativen, assoziationspsychologischen Klammer und erweitert sie erfahrungstheoretisch, dann wird schnell klar: Gewohnheiten und Habitus basieren wie alle Erfahrungen auf einem Horizont, der als Gestalt, als Körperschema und als Verkörperung (
Kap. 5.1
) sowohl Vorerfahrungen, Vorwissen und Vorkönnen als auch Antizipationen, Erwartungen und Hoffnungen umfasst (vgl. Brinkmann 2011a). Gewohnheit und Habitus sind als »Strukturen des Verhaltens« (Merleau-Ponty) weder statisch-determinierende noch ausschließlich konservativ-bewahrende Strukturen. Sie sind beides, eine strukturierte und zugleich eine strukturierende Struktur (vgl. Bourdieu 2014, S. 98 f.). Gewohnheiten sind »schlecht verstanden, wenn man sie nicht auch als intelligente und für Neues offene Fertigkeiten betrachtet. Gerade das Moment der kreativen Offenheit, die die Erfahrenheit eines erfahrenen Menschen ausmacht, lässt sich am besten verstehen, wenn man den Gang der Erfahrung« im Lernen einbezieht (Buck 2019, S. 217;
Kap. 4).
Um deutlich zu machen, dass Habitus und Gewohnheit unter erfahrungs- und übungstheoretischer Perspektive durchaus Offenheit für Neues bzw. Möglichkeiten des Horizontwandels beinhalten, werde ich die leiblichen Grundlagen des Übens herausarbeiten und zeigen, dass aufgrund der temporalen Struktur der wiederholenden und negativen Erfahrung (
Kap. 5.2.und 5.3) Gewohnheiten und Habitus als Fundamente und zugleich als Elemente der Transformation im Üben gelten können.
1.8 Aus Fehlern wird man klug?
Können, sei es motorisches, geistiges, ästhetisches oder ethisches Können, beruht nicht auf Wissen, sondern auf Erfahrung, die nur durch praktisches Tun erworben werden kann. Eine Schülerin oder ein Schüler der Klasse 3a, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Volkshochschulkurs oder die Fahrradfahrerin oder der Fahrradfahrer sollten nicht nur die Regeln für ihre Tätigkeit kennen, bestimmen und erklären können, sondern sollten sich auch danach verhalten können. Dazu müssen sie die allgemeinen Regeln auf eine besondere Situation beziehen und dort anwenden können. Sie müssen urteilen und oftmals auch situativ entscheiden und handeln können, wie Ärztinnen und Ärzte, die eine Krankheit diagnostizieren, oder Lehrerinnen und Lehrer, die von ihren Plänen abweichen und spontan ein Blitzlicht im Unterricht durchführen. Sie müssen aus der Fülle der Beobachtungen etwas Gemeinsames und Praktikables herauslesen, ein Allgemeines bestimmen und praktisch in Anschlag bringen können. So kann das situative Problem gegebenenfalls besser gelöst werden als durch begriffliche Bestimmung, wissenschaftliche Untersuchung oder Austausch von Regeln. Dazu muss geurteilt werden, indem entweder das Besondere des Falls in das Ganze der Situation eingeordnet und auf diese abgestimmt wird oder indem neue Regeln generiert werden. Letzteres trifft z. B. auf die Kinder der Klasse 3a zu, die allgemeine soziale Regeln erst noch finden wollen.
Ethisches und professionelles Handeln muss genauso wie motorische und geistige Beweglichkeit geübt werden. Im Ausüben können sich die Grundsätze dieses Übens zu einer Haltung verdichten. Eine Haltung nimmt man ein, man bewahrt sie oder kann sie verlieren, vor allem aber zeigt man sie. Sie kann fest sein oder mehrdeutig. Mit der Haltung stellt man sich auf bestimmte Art und Weise der Welt gegenüber. Das zeigt sich in der leiblichen und körperlichen Haltung (z. B. als schief, gerade, schlaff, stramm usw.). Haltungen beinhalten damit immer auch Bewertungen und Positionierungen (
Kap. 8.4). Sie rekurrieren auf Unterscheidungen und damit auf Urteile. Haltungen, die man gut findet, haben in der europäischen Tradition den Namen Tugend (im griechischen Sinne von Tüchtigkeit, arete). Im Griechischen heißt Haltung ethos. Um das Gute (agathon) zu bestimmen, setzt Aristoteles bei den praktischen Erfahrungen und Verrichtungen, beim Konkreten und Faktischen an (vgl. Aristoteles 1985). Hier kommt die Wiederholung als Kernelement von Erfahrung und Übung ins Spiel. Aristoteles sagt, dass moralisches Verhalten nur dadurch gelernt wird, dass getan wird, was gelernt werden soll – und das »asketisch« (ebd., S. 1103a). Askesis ist das griechische Wort für Übung. Moralisches Verhalten, ob es das Gute bewirkt oder verfehlt, wird geübt. Ethos ist also eine Haltung, die durch Übung erworben wird. Sie basiert wie die Gewohnheit auf Dauer und Wiederholung. Im Unterschied zur Gewohnheit aber verweist die Haltung auf eine reflexive Bezugnahme zu diesen Gewohnheiten. Über diese wird im Üben geurteilt. Die der Haltung zugrunde liegende, reflexive und bewertende Praxis ist nicht ausschließlich als Denktätigkeit zu sehen. Sie ist – so die in diesem Buch vertretene Position – als Urteilsfähigkeit immer als Antwort auf Andere und Anderes zu sehen. Sie basiert auf dem stellungnehmenden Leib und auf der menschlichen Verletzlichkeit. So zeigt sich eine Haltung und zugleich zeigt sich darin jemand als jemand Bestimmtes Anderen gegenüber. Eine Haltung beruht auf einem Unterscheiden können und Urteilen können (
Kap. 8.4). Sie manifestiert sich in einer Stellungnahme oder Positionierung: Eine Haltung zeigt sich, nachdem und indem man Urteile fällt und aus unterschiedlichen Möglichkeiten wählt. Dieses kann geübt werden – insbesondere in pädagogischen Settings wie dem Unterricht (
Kap. 8.5
). Diese urteilende Entscheidungsfähigkeit bezeichnet Aristoteles als verständige Klugheit bzw. praktische Klugheit (phronesis), die als Mit-zu-Rate-gehen, als Hin-und-herüberlegen und als gemeinschaftliches, soziales und politisches Beraten übersetzt werden kann (vgl. Fink 1970b, S. 206 ff.;
Kap. 6).
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