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Im deutschen Recht ist die AVMD-Richtlinie in ihrer damaligen Fassung im 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag umgesetzt und ein neuer einfachgesetzlicher Rundfunkbegriff geschaffen worden. Nach wie vor ist die einfachgesetzliche Einordnung nach den neuen Abgrenzungskriterien indes nicht immer eindeutig. Insoweit muss stets die Frage beantwortet werden, ob es sich bei oben genannten Erscheinungsformen um Rundfunk oder um sog. Telemedien handelt, die lediglich anzeige- und nicht zulassungspflichtig[101] sind. In der Praxis besonders bedeutsam und zugleich schwierig ist diese Unterscheidung, wenn es um Online-Angebote von Nichtrundfunkveranstaltern geht.[102] Handelt es sich bei diesen Erscheinungsformen um Rundfunk mit der Konsequenz, dass das rundfunkrechtliche Regime mit Lizenzerfordernis, rundfunkrechtlichen Werberegeln und Jugendschutzvorgaben gilt oder kann die Verbreitung dieser Inhalte über das Internet gar nicht oder nur speziell reguliert erfolgen?
2.2.2.1 Verfassungsrechtliche Einordnung
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Zwar kennt das GG neben der in diesem Zusammenhang weniger relevanten Filmfreiheit nur Rundfunk und Presse. Verfassungsrechtlich unterfallen jedoch auch telemediale Abrufdienste nach herrschender Meinung[103] dem weiten verfassungsrechtlichen Rundfunkbegriff.[104] Es werden Text-, Ton- oder Bilddateien mittels elektromagnetischer Schwingungen verbreitet. Eine nicht näher begrenzte Anzahl von Personen kann diese Dateien abrufen. Es fehlt an einer Möglichkeit auf den dargebotenen Inhalt Einfluss zu nehmen. Der Nutzer rezipiert eine redaktionell aufbereitete, planmäßige Darbietung mit publizistischer Relevanz. Dieses weite Verständnis des Rundfunkbegriffs eröffnet einen breiten Anwendungsbereich der Rundfunkfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG und entspricht damit dem Postulat des BVerfG nach Offenheit für Neuerungen.[105] „Abruf-Applikationen“ sind somit bei verfassungsrechtlicher Betrachtung als Rundfunk zu klassifizieren. Dass eine solche Subsumtion angesichts der zunehmenden Digitalisierung und Konvergenz mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist, zeigt sich bereits daran, dass Presse, Rundfunk sowie alle neuen medialen Angebote die meisten Nutzer nicht mehr auf getrennten Wegen erreichen. Aufgrund neuer Endgeräte wie Hybrid-Fernseher, Apple-TV, Amazon Fire TV, Tablets oder Smartphones, können sämtliche Angebote auf sämtlichen Verbreitungswegen empfangen werden.[106] Aufgrund dieser Endgerätekonvergenz, die die Unterscheidbarkeit der medialen Angebotsgattungen weitgehend entfallen lässt,[107] ist eine rechtssichere Einordnung in die herkömmlichen Kategorien des Grundgesetzes nicht immer möglich.[108] Auch der Nutzer differenziert regelmäßig nicht zwischen den unterschiedlichen Gattungen, sondern erwartet einen möglichst schnellen und unkomplizierten Zugang zu den für ihn relevanten Inhalten.[109] Diesen, seit Entstehung des Grundgesetzes erheblich veränderten Gegebenheiten, könnte mit einem gattungsübergreifenden Grundrecht der Medienfreiheit Rechnung getragen werden.[110] Einer solchen Konstruktion stünde auch das europäische Recht nicht entgegen, welches weder in Art. 10 Abs. 1 EMRK noch in Art. 11 Abs. 2 Grundrechtecharta nach medialen Gattungen differenziert.[111] Der bisherige Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG mit seiner Differenzierung zwischen Rundfunk-, Presse- und der insoweit weniger relevanten Filmfreiheit könnte dafür im Sinne eines klassischen Freiheitsrechts weiterentwickelt werden.[112] Dies erscheint weitaus praktikabler als die zusätzliche Schaffung einer eigenständigen Internetdienstefreiheit auf Grundlage und in Ausgestaltung des Art. 5 GG. Wollte man dann den Rundfunkbegriff auf diejenigen Verteil- und Abrufdienste anwenden, die eine hinreichende Suggestivkraft, Aktualität und Breitenwirkung aufweisen und alle übrigen elektronisch verbreiteten Kommunikationsinhalte der Internetdienstefreiheit unterwerfen,[113] böte dies gegenüber der geltenden Rechtslage keine erkennbaren Vorteil. Schließlich werden verfassungsrechtlich als Rundfunk eingeordnete Internetdienste auch heute nicht mehr den scharfen Regulierungsanforderungen des klassischen Rundfunks unterworfen.[114] Es sprechen daher gute Gründe dafür die Medienfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG nicht kleinteilig zu erweitern, sondern vielmehr für die neuen Medien im Ganzen zu öffnen.[115]
2.2.2.2 Einfachgesetzliche Einordnung
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Der Gesetzgeber kann einzelne Bereiche innerhalb des weiten verfassungsrechtlichen Rundfunkbegriffs abweichend enger regeln. Dies kann geschehen, um Erscheinungsformen, die zwar den verfassungsrechtlichen Schutz des weiten Rundfunkbegriffs genießen, aber z.B. nicht oder nicht in gleichem Maße meinungsrelevant sind, weniger streng zu regulieren. Um ein solches „liberaler“ reguliertes Angebot handelt es sich bei den Telemedien. § 1 Abs. 1 TMG (Bundesgesetzgeber) und § 2 Abs. 1 S. 3 RStV (Landesgesetzgeber) definieren ein Telemedium dementsprechend in negativer Abgrenzung zum Rundfunk faustformelartig und gleich lautend als einen elektronischen Informations- und Kommunikationsdienst, der weder Telekommunikation noch Rundfunk ist. Beim Rundfunk reduzieren sich die Möglichkeiten des Rezipienten auf das Ein- oder Ausschalten eines Angebots. Auf den Zeitpunkt des Empfangs kann der Nutzer keinen Einfluss nehmen, weshalb das Merkmal der Linearität erfüllt ist. Für redaktionell gestaltete Online-Angebote ist indes eine („nicht-lineare“) On-Demand-Nutzung charakteristisch. Hier werden Text-, Ton- und Bilddarbietungen auf einer Datenbank zum Abruf bereitgehalten, damit der Nutzer sie zu einem selbst bestimmten Zeitpunkt abrufen kann. Bei diesen Abrufdiensten handelt es sich, da sie nicht im oben genannten Sinne an die Allgemeinheit gerichtet sind, nicht um Rundfunk i.S.d. Rundfunkstaatsvertrags, sondern um Telemedien. Es stellt sich indes die Frage, ob das regulatorische Sonderregime des Rundfunks angesichts der zunehmenden Vermischung von linearen und nicht-linearen Angeboten, deren Inhalte sich häufig überschneiden, noch gerechtfertigt ist.[116] Sofern man von der Notwendigkeit ausgeht, ein dem konvergenten Zeitalter angepasstes Grundrecht der Medienfreiheit zu schaffen, müsste folgerichtig auch die einfachgesetzliche Medienordnung gattungsübergreifend im Sinne eines „level playing field“[117] angepasst werden. Die Abschaffung einer abgestuften Regulierung wäre hiermit nicht verbunden. Allerdings sollte der Umfang der Regulierung nicht – wie bislang – von der Zugehörigkeit zu bestimmten Mediengattungen abhängig gemacht werden. Vielmehr sollte insoweit an die Meinungsrelevanz bzw. das Gefährdungspotenzial der dargebotenen Inhalte angeknüpft werden.[118] Unter diesen Voraussetzungen wäre auch eine Regulierung des Internets denkbar und angesichts des teils erheblichen meinungsbildenden Einflusses sogar dringend geboten.[119] Nur durch ein inhaltliches Differenzierungskriterium, welches sich von den herkömmlichen Medienkategorien löst, kann der außerordentlichen Dynamik dieses Regulierungsgegenstandes Rechnung getragen werden.
2.2.2.3 Reformwille bei Streaming TV im Internet – Anzeigepflicht anstatt Lizenz
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Das Reformerfordernis des Rundfunkbegriffs wurde 2017 insbesondere im Zusammenhang mit dem Streaming-TVim Rahmen von DKB-Livestreams zur Übertragung der Handballweltmeisterschaft und des Gameangebots PietSmiet TV auf Twitch.TV diskutiert, wo bis zur Androhung der Untersagung der Dienste mangels Rundfunklizenz durch die Landesanstalt für Medien NRW gemeinsames Onlinespielen sowie Weltmeisterschaftsspiele live ausgestrahlt und kommentiert wurden.[120] In diesem Zusammenhang wird in der Literatur zu Recht die starre Fixierung des Rundfunkbegriffs an die Linearitätder Ausstrahlung und deshalb ein Reformbedarf des Rundfunkstaatsvertrages angemahnt.[121] Zu weitgehend dürfte es wohl aber sein, das Lizenzerfordernis für Web-TV insgesamt unter Hinweis auf das Zensurverbot für verfassungswidrig zu erklären, weil die Sondersituation der Rundfunkregulierung mit dem Wegfall der Frequenzknappheit entfallen sei, so dass die positive Ausgestaltung des Rundfunks aus Gründen der Vielfaltssicherung nicht mehr erfolgen müsse.[122] Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht diese Sondersituation trotz eines Wegfalls der Frequenzknappheit noch berücksichtigt.[123] Ungeachtet dessen ist die Kritik in der Sache begründet und eine Reform des Rundfunkstaatsvertrages für Streaming-TV dringend angezeigt. So könnte der Gesetzgeber im Anschluss an die schon bestehende Sonderregelung für den Internethörfunk, der nach § 20a RStV allein in einer Anzeigepflicht besteht, den Rundfunkstaatsvertrag um eine Anzeigepflichtfür Streaming-TV ergänzen. Hier müsste der Gesetzgeber schon auf der Ausgestaltungsseite von Art. 5 Abs. 1 GG etwa mit Blick auf Größe, konzentrationsrechtliche Fragen, Reichweite und Meinungsrelevanz und wirtschaftliche Bedeutung differenzieren.[124] Im Ergebnis würde im Rahmen der Reform des Rundfunkbergriffs, die Gegenstand des 22. Rundfunkänderungsstaatsvertrages sein könnte, für Internetfernsehangebote das Lizenzerfordernis aufgehoben. Dieser durch die Verfahrensvereinfachung gegenüber dem „Youtubern“ gewährte Vertrauensvorschuss scheint mit Blick auf die im Internet nicht mehr relevante Frequenzknappheit und die geänderte Lebenswirklichkeit des „Jedermann-Rundfunks“ angemessen, wenn den Landesmedienanstalten mit Blick auf die Durchsetzung der Schranken der Meinungsfreiheit ein angemessenes Sanktionsinstrumentarium zur Verfügung gestellt wird, das gerade wegen des Jugendschutzes oder den Vorschriften zur Werberegulierung dringend erforderlich ist.
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