Langsam stand Mila auf. Sie trat an den Kamin, entfachte ein Feuer und hielt das Pergament darüber. Sie sah zu, wie die Flammen gierig danach griffen und es zerfraßen. Das Pergament löste sich in einen Feuerwirbel auf. Asche segelte nach unten. Zerfiel in der Glut. Omas Liebe hingegen blieb tief und groß in ihrem Herzen.
Mila stand auf. Sie packte die grüne Flasche mit der Weidenrindentinktur, ein paar Salbentiegel und einige Kräuterbündel in ihren Korb. Sie griff nach Omas rotem Tuch und schlang es um ihre Schultern. Dann verließ sie die Hütte und machte sich auf den Weg ins Dorf.
Hier durch.“ Die Ratte sauste um die Ecke. Ignaz hatte Mühe mit dem Ungeziefer Schritt zu halten. Schon die ganze Zeit hetzte es über die Waldwege und nun durch die Gassen dieser toten Stadt. Die Straßen waren leergefegt. Nur der Wind blies um die Ecken. Wie diese Ratte.
Eigentlich betrat man Stiegard nicht. Eigentlich war diese Stadt verflucht, hieß es. Und eigentlich machten Dorfbewohner und Reisende einen großen Bogen um sie.
Doch heute nicht. Heute war der Tag vor der Wintersonnenwende. Heute kam die längste Nacht. Das Hoch der Dunkelheit. Es war die Nacht, in der die toten Mauern Stiegards mit Leben erfüllt werden würden. Denn dieser abgelegene Ort war der Ort, den die Windhexe sich für die diesjährige Versammlung ausgesucht hatte. Die große Versammlung mit all ihren Anhängern.
Wie sehr wünschte sich Ignaz dabei zu sein. Diese Macht zu spüren. Ein Teil davon zu werden. Diesmal würde es klappen. Ganz bestimmt.
„Beweg die Beine, du alter Sack.“ Die Ratte wuselte einmal um ihn herum.
„Blödes Vieh!“, keuchte er. Zwergenschritte waren feste Schritte. Nicht so ein Getrippel wie bei dem Nager. Doch Ignaz wusste, dass seine Schritte nicht fest, sondern todmüde waren. Zäh bewegten sie sich fort, wie die knorrigen Äste einer alten Eiche. Sein Herz blubberte vor Anstrengung und sein Atem pfiff wie ein Vögelchen. Gar nicht zwergenhaft.
Ignaz schnaubte. „Wer hatte diese blöde Idee“, grummelte er und schnappte nach Luft, „dass man die Hexe erst treffen muss“, ein Keuchen, „bevor man zur Versammlung kommen darf?“
„Du hast Glück, dass du sie hier treffen darfst und nicht bis zu ihrer Stadt nach Hagenort wandern musst.“
„Trotzdem. Eine dumme Idee.“
„Spar dir deine Puste, Alterchen. Komm mit, wir sind bald da.“
„Das sagst du schon seit einer Stunde. So kommen wir nie an und ich kann heute Abend nicht zur Versammlung.“
„Wir wären längst angekommen, wenn du nicht so langsam wärst.“
„Ich erschlage dich gleich!“ Wütend trat Ignaz in Richtung des dreckigen Fellknäuels. Die Ratte flitzte zwischen seinen Beinen hindurch. Ignaz schwankte. Hurtig machte er zwei Ausfallschritte und fing sich wieder auf. Meine Güte, das Vieh hätte ihn beinahe zu Fall gebracht.
Ein Kichern erklang hinter ihm. „Du solltest achtgeben, Opa. Wenn du mich erschlägst hast du niemanden mehr der dich zur Hexe bringt. Dann kannst du in deinem Laden hocken und warten bis du grau wirst. Ach“, fügte sie hinzu und kicherte erneut, „grau bist du ja schon.“
Das war zu viel. Mit einer blitzschnellen Bewegung holte Ignaz aus und packte das Tier am Hals. Er hob es in die Luft. Fett, grau und groß war diese Ratte. Doch jetzt zappelte sie mit ihren vier Beinchen hilflos herum.
„Unterschätze niemals einen Zwerg.“ Triumphierend sah er, wie die schwarzen Rattenaugen hervorquollen und das Vieh nach Luft schnappte.
„Hör mir zu, Nager. An deiner Stelle würde ich jetzt kein einziges Wort mehr sagen. Bring mich zur Hexe und zwar schnell. Sonst drehe ich dir das Genick um. Und glaube mir, bei meinem Zwergenbart, ich werde jemand anderen finden der mich zu Ludetta bringt. Hast du mich verstanden?“
Das Vieh japste noch immer.
Ignaz schüttelte es. „Verstanden?“
Ein Nicken ruckte durch den Rattenkopf.
„Gut“, knurrte Ignaz. „Das wäre geklärt.“
Er öffnete seine Hand, ließ das Tier zu Boden fallen und stellte mit Genugtuung fest, dass es hustete und sich den Hals rieb.
„Los, weiter. Und diesmal im Tempo eines wahren Zwerges.“ Er ließ seine Schritte auf den Boden donnern und stapfte der Ratte nach.
Es war tatsächlich nicht mehr weit bis zum Ziel. Schon sah Ignaz die Ruine. Wie schwarze Zahnstummel im Mund eines Greises ragten ihre Mauern in die Höhe. Rußgeschwärzt prangten sie vor dem grauen Himmel. Als warnendes Symbol des Untergangs einer Macht, einer ganzen Stadt. Passend für das Treffen mit einer Hexe. Ignaz straffte seine Schultern und stampfte die Füße auf den Boden. Kraftvoll marschierte er unter dem verkohlten Torbogen hindurch und überquerte den großen Hof. Hinein in das, was einst ein Saal gewesen war. Nun prangte der nackte Himmel über ihnen. Statt teuren Teppichen klebten Ascheflecken an der Wand.
Vor Ignaz befand sich eine windschiefe Tür, die nur noch in einer Angel hing. Er wusste, dass sich dahinter die Windhexe befand. Die Ratte musste es ihm nicht weisen, er spürte die Macht der Hexe durch seinen Körper spülen, bis zu seinem linken großen Zeh.
Ein Wolf schlüpfte aus der Türöffnung. In geduckter Haltung, den Schwanz tief eingezogen, am ganzen Körper zitternd. Er machte einen verschreckten Bogen um Ignaz und die Ratte und huschte davon.
Ignaz grinste. Die Hexe hatte den Wolf ganz schön verstört. Das war nach Ignaz’ Geschmack.
„Der Nächste“, erklang eine Stimme, durchdringend wie ein Messer und triefend vor Ungeduld.
Ein kurzer Blick um sich, außer ihm und der Ratte war niemand mehr da. Ignaz straffte seine Schultern.
„Los, oder soll ich den ganzen Tag warten?“
Fräulein Ungeduld. Pah. Der Zwerg spuckte aus und ging durch die Tür.
Er hätte sich den Raum prunkvoller vorgestellt. Besser gesagt, es war gar kein Raum, es war ein Garten. Früher zumindest ein Garten gewesen. Jetzt war es ein Durcheinander. Verkohlte Bäume und Sträucher standen herum, von wildem Dornengestrüpp überzogen. Wirklich, er hätte sich den Ort des Treffens mit einer mächtigen Hexe würdevoller vorgestellt.
Wo war Ludetta überhaupt? Ignaz konnte sie nirgends entdecken und doch schlug sein Herz wild, angestoßen von der Macht. Sie war da.
Neben sich ein Rascheln. Die Ratte war an seine Seite gewuselt.
„Du bringst mir einen Zwerg?“, durchfuhr eine Stimme den Garten. „Rasmus, was soll das?“ Vor zwei dürren Baumstämmen flimmerte es. Ignaz blinzelte. Er sah verwaschene Konturen einer Gestalt. Langes, helles Haar. Genau wie das Gewand. Alles flatterte im Wind. Zierliche Arme, ein Gesicht, nur unscharf auszumachen. Frauen mit ihrem Firlefanz. Sie bauschten alles dramatisch auf.
„Rasmus, antworte mir.“
Die Ratte duckte den Kopf. „Er wollte unbedingt. Schon seit vielen Monden fragt er überall herum. Ich dachte, er wäre vielleicht … wenn auch ein Zwerg, aber … ein bisschen nützlich?“
„Du sollst nicht denken.“ Der Firlefanz hatte aufgehört. Die Hexe war jetzt klar zu erkennen. Sie verzog das glatte Gesicht.
„Ein Zwerg, also wirklich. Zu was sollte der mir nützlich sein? Verschwinde Rasmus und nimm das bärtige Ding mit.“
Er hörte wohl nicht recht! In Ignaz brodelte es wie in einem Hexenkessel. Er schnaubte und richtete sich auf: „Ich bin Ignaz der Zwerg“, donnerte er los. „Ladenbesitzer in Rielau und Mitglied des Dorfrates. Ich bin vieles, aber ganz gewiss kein bärtiges Ding. Verscheuchen kann man mich nicht.“
Die Hexe wuchs, doch Ignaz war noch lange nicht fertig. „Und wenn du nicht so eitel wärst, du Weibsstück, dann wüsstest du längst, wie nützlich ich dir sein könnte. Jawohl. Aber du …“
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