Und sie wollte nicht weinen. Nicht wegen eines Zwerges. Nicht wegen Oma und schon gar nicht wegen des Sturmes, der in ihr tobte. Mit dunklen, mächtigen Gewitterwolken.
Keuchend blieb Mila stehen. Sie wollte nicht ins Dorf, wollte nicht unter all die Menschen und keinesfalls wollte sie den Laden des Zwerges betreten.
Sie wollte in ihrem Wald bleiben. Bei den Tannen und den Vögeln. Ihre Ruhe haben. Sie wollte die Ruhe der Lichtung zurück. Doch die Ruhe war nirgends. Überall herrschte Aufruhr. In ihr. Um sie.
„Ich gehe einfach nicht hin“, stieß sie aus und wusste, noch während die Worte auf ihren Lippen lagen, dass es nicht ging. Ignaz würde in ihre Hütte kommen. Er würde keine Oma vorfinden. Und er würde wissen, dass Mila alleine war. Er würde sie noch am selben Abend zu Egon, ihrem Vormund schleppen. Und dann wäre sie seine Sklavin. Egon würde ihr niemals die Freiheit des Erwachsenseins geben.
Und wenn sie doch ins Dorf ging? Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie hatte Angst vor den Menschen. Ihren Fragen. Wie geht es deiner Oma? Warum haben wir dich so lange nicht mehr gesehen?
Was sollte sie sagen? Die Angst zog sich hinauf und legte sich wie ein Band um ihren Hals. Sie wollte nicht gehen. Sie konnte nicht bleiben. Es zerrte sie hin und her. Immer stärker. Gleich würde es sie in Stücke reißen!
„Und ich gehe doch nicht hin“, platzte es aus ihr heraus. „Ich gehe nicht dorthin!“
Wütend trat sie mit dem Fuß einen Stein fort. Er flog durch die Luft und landete raschelnd im Gebüsch. Wie eine weiße Kugel schoss ein Tier zwischen den Blättern heraus, flitzte über den Weg und verschwand im nächsten Strauch. Stille breitete sich aus.
Was war das gewesen? Neugier und Vorsicht legten sich über Mila, als sie behutsam einen Fuß vor den anderen setzte. Sie lugte zwischen den Blättern hindurch. Weißes Fell blitzte auf. Erneutes Rascheln, als sich das Tier weiter zurückzog. Es hatte mehr Angst vor ihr als sie vor ihm.
Mila ging in die Hocke. Langsam schob sie einen Zweig beiseite.
Zwischen den Ästen hockte ein Hase. Er hatte die Vorderpfoten schützend über den Kopf gelegt und hielt sich mit den langen Ohren die Augen zu. Sein Körper zitterte.
„Du musst keine Angst haben“, flüsterte Mila sanft. Sie zog sich ein Stück zurück. „Ich werde dir nichts tun.“
Ein Hasenohr schob sich zur Seite und brachte ein großes, blaues Auge zum Vorschein. Der Blick schweifte umher, bis er auf Mila traf. Er erstarrte. Schwupp, schnellte das Ohr wieder vors Auge. Leises Flüstern klang von dem Fellknäuel empor: „Ich bin nicht da. Niemand kann mich sehen, überhaupt gar niemand.“
Ein sprechendes Tier. Eines, das kaum Kontakt zu Menschen gehabt hatte. Das sich die Sprache erhalten hatte. Normalerweise mied sie diese Tiere. Sie konnten sprechen. Auch ihr Geheimnis aussprechen. Doch etwas in Mila hielt sie da. Vielleicht war es, weil das Häschen immer noch vor sich hinmurmelte.
„Niemand kann mich sehen …“
In Milas Mundwinkeln zuckte ein Lachen. „Hmmm … Wenn du ein weißes, süßes Häschen mit einer rosa Nase bist kann ich dich sehen.“
Die Ohren flogen nach oben. Das Tier setzte sich auf und funkelte Mila an. „Ich bin nicht süß und meine Nase ist rotbraun.“
Mila legte den Kopf schief. „Also, für mich sieht sie rosa aus.“
„Es ist ein sehr helles Rotbraun. Vielleicht hat es einen Stich rosa drin, aber deshalb bin ich noch lange nicht süß. Ich bin ein stattlicher Hasenmann! Und wer bitteschön bist du?“
„Ich bin …“ Sie stockte. Mit neuer Wucht brach es auf sie herein. Das Grab, der Zwerg und das dumme Versprechen das sie gegeben hatte. Hätte sie nur nie ihren Namen genannt.
„Wer ich bin ist nicht wichtig.“ Mila senkte den Blick. „Ich muss jetzt weiter.“ Hurtig stand sie auf.
„Moment!“ Der Hase sprang vor sie auf den Weg. Erschrocken sah er sich um und zog sich drei Schritte zurück unter einen schützenden Zweig. Nicht mehr ganz so fest klang seine Stimme hinter den Blättern hervor: „Du kannst nicht hierherkommen, herumschreien, mich aus meinem Versteck jagen und dann einfach so verschwinden, ohne mir zu sagen wer du bist. Außerdem hast du gerufen: Ich gehe nicht. Also kannst du auch nicht gehen.“
Er war so goldig. Und wie recht er hatte. Mila bückte sich zu dem Hasen hinab. „Ich bin …“
Angst ließ sie erneut stocken. Sie sah in die großen, blauen Augen. Vor ihr saß ein Tier, rein und klar. Ein Geschöpf des Waldes. Und dieses Geschöpf hatte ziemlich große Angst. Ein Hasenohr zitterte schon wieder. Es würde nichts geschehen, wenn sie ihren Namen aussprach.
Sie räusperte sich. „Mila. Ich bin Mila.“
„Und ich heiße Bamper.“
Wo gehst du nicht hin?“ Die Hasenohren stellten sich neugierig nach vorne.
„Ich gehe nicht ins Dorf.“ Milas Bauch zog sich zusammen, wenn sie nur schon daran dachte. Die Menschen, Egon, der Zwerg.
Bamper nickte eifrig. „Gut. Sehr gut. Da sollst du auch nicht hin. Keinesfalls. Das wäre schrecklich, fürchterlich, kaum auszudenken wäre das, wenn du zu den Menschen gehen würdest. Sie sind die Allerschlimmsten!“
Mila räusperte sich. „Darf ich dich darauf aufmerksam machen, dass ich auch ein Mensch bin?“
„Du doch nicht.“
Mila lachte und breitete die Arme aus. „Ich bin ein Mensch!“
„Ich meine, du bist doch nicht gefährlich.“
„Woher willst du das wissen? Du kennst mich gar nicht.“
Der Hase hoppelte einen Schritt aus seiner Deckung hervor und sah Mila ernst an. „Das erkenne ich sofort. Du hast ein gutes Herz.“
„Bamper, du bist so süß!“
Der Hase holte empört Luft.
Schnell warf Mila ein: „Verzeih, ich meinte, goldig … nein, herz... – einfach charmant. So, wie es sich für einen stattlichen Hasenmann gehört.“
„Natürlich“, nickte der Hase. „Genau das bin ich. Und du bist sehr schlau, weil du nicht zu den Menschen gehst.“
„Eigentlich muss ich ins Dorf gehen.“ Mila senkte den Blick.
„Dann bist du dumm“, stieß Bamper aus. „Menschen sind schrecklich.“
„Ja …“
Mila sah wieder den rotbärtigen Egon vor sich. Seine Sklavin auf Lebzeiten, wenn herauskäme, dass Oma tot war. Doch innerlich hörte sie die Drohung des Zwerges. Bis Sonnenuntergang bringst du deine Waren in meinen Laden. Ich weiß, wo du wohnst. Mila schauderte.
„… aber ich muss gehen.“
„Weshalb?“
„Weil der Zwerg sonst zurückkommt und etwas entdeckt. Dann bin ich … verloren.“
„Versteck dich im Haselstrauch.“
„Ach, Bamper.“ Mila schüttelte den Kopf. „Das hilft nichts.“
„Dann fliehe. Es gibt noch andere Wälder.“
„Du kennst doch die Menschen. Eine junge Frau ist Freiwild. Nur wenn ich wie Oma bin, eine Heilerin, bin ich hier sicher. Und nur hier in Rielau.“
Der Hase machte einen Hüpfer auf sie zu. „Was kann der Zwerg denn Schlimmes entdecken?“
„Das …“, Mila spürte, wie Tränen in den Hals hinaufkrochen, „… ist ein Geheimnis.“
„Verstehe.“ Bamper blickte nach unten. Dann schüttelte er den Kopf. „Das ist nicht gut.“
„Was?“ Mila schluckte.
„Ich mag Geheimnisse nur, wenn ich sie kenne.“ Bampers Augen sahen sie ernst an.
In Mila tobte es. Sie konnte es ihm nicht sagen. Es war zu gefährlich. Er konnte sprechen. Er konnte es ausplaudern. Die Tränen stiegen bis zu ihrer Nase. „Ich kann dir nicht davon erzählen.“
Bamper nickte. „Und was sagt deine Oma, die Heilerin, dazu? Sie will bestimmt nicht, dass du zu den Menschen gehst.“
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