»Sie meinen …?«
»Ja, gehen Sie. Sie können hier nichts mehr ausrichten.«
»Aber … aber … ich muss doch weiter die Verteidigung führen«, antwortete Nyssa. Hin und her gerissen zwischen seinem Pflichtgefühl und dem überwältigenden Drang, die Beine in die Hand zu nehmen. Fast musste Ibrahim lächeln.
»Ist schon in Ordnung. Für so etwas sind Sie nie ausgebildet worden. Ich hingegen schon. Machen Sie sich keine Sorgen. Ihr Planet ist in guten Händen.«
Mit diesen Worten packte Ibrahim seinen Kampfhelm, griff sich ein Gewehr und strebte dem Ausgang entgegen. Nyssas ungläubiger Ausruf hielt ihn kurz zurück.
»Aber wenn Sie hierbleiben, werden Sie sterben. Sie und ihre Männer.«
Ibrahim schenkte dem General ein letztes, wehmütiges Lächeln. »Das ist doch nichts Neues. Dafür sind die Marines schließlich da. Leben Sie wohl, General – und alles Gute.«
Nyssa sah Lieutenant Colonel Ibrahim Karalenkov nach, lange nachdem dieser das Zelt schon verlassen hatte. Dann packte er eilig seine wenigen Habseligkeiten und machte sich auf, um das Flugfeld noch rechtzeitig zu erreichen.
Das Fluchtschiff hob schwerfällig vom Boden ab. Justin hatte den Eindruck, dass der Pilot Schwierigkeiten hatte, gegen die Schwerkraft anzukämpfen. Vermutlich war das Schiff überladen.
Der Raumhafen unter ihnen war nun Schauplatz eines erbitterten Abwehrgefechts. Die wenigen verbliebenen Verteidiger versuchten, den Fluchtschiffen so viel Zeit wie möglich zu verschaffen. Tausende von Flüchtlingen hatte man zurücklassen müssen. Sie duckten sich zwischen den Ruinen ausgebrannter Häuser und den Wracks zerstörter Fahrzeuge und warteten auf das unvermeidliche Ende der Schlacht.
Die Fluchtschiffe wurden von Hunderten Jägern umschwärmt, die einen Abwehrring um den Konvoi gebildet hatten. Reaper versuchten immer wieder, die Linie zu durchbrechen, wurden aber bis auf wenige Ausnahmen zurückgeworfen.
Nur einmal gelang es ihnen, zu den Fluchtschiffen durchzubrechen. Die Zerberus- und Arrow-Jäger konnten sie zwar wieder zurückdrängen. Aber nicht, bevor eins der Evakuierungsschiffe angegriffen und schwer beschädigt worden war. Die Triebwerke des unglückseligen Transporters stellten flackernd ihre Arbeit ein und das zum Untergang verurteilte Schiff fiel wieder zur Oberfläche hinab, wobei es einen Schwanz aus geborstener Panzerung und Rauch hinter sich herzog.
Als sie endlich den Orbit erreichten, waren sie plötzlich von Dutzenden von Kriegsschiffen umgeben. Die Zeichen der Raumschlacht waren allgegenwärtig. Zerstörte Kriegsschiffe – terranische und ruulanische – säumten ihren Weg. Die Überreste der 5. Flotte zogen sich gemeinsam mit den letzten Fluchtschiffen zur Nullgrenze zurück.
Jedes Schiff zeigte einen unterschiedlichen Grad an Beschädigung. Ein riesiger Schlachtträger musste sogar von zwei Schlachtschiffen abgeschleppt werden, um nicht zurückgelassen zu werden.
Im Innern des Transporters waren das Weinen von Kindern und das Wimmern verängstigter Menschen die vorherrschende Geräuschkulisse. Man konnte nur vermuten, dass es an Bord der anderen Schiffe genauso aussah.
Justin warf durch das Bullauge einen letzten Blick auf Ursus. Der Planet war nun von ruulanischen Schiffen vollständig eingekreist.
Es war totenstill in dem schmucklosen Büro. Der Mann, der am Schreibtisch saß, war leichenblass. Zwischen seinen vom Alter ausgebleichten, fast weißen Haaren und seiner Gesichtsfarbe bestand kaum ein Unterschied.
»Wie schlimm ist es?«, fragte Harkon Magnus, Präsident des Terranischen Konglomerats.
Die vier Männer und eine Frau, die ihm gegenüber im Halbkreis saßen, warfen sich unbehagliche Blicke zu und einigten sich wortlos darüber, wer denn nun fortfahren sollte.
Konteradmiral Okuchi Nogujama machte den Anfang. Der drahtige, alte Japaner leitete schon seit vielen Jahrzehnten erfolgreich den MAD und hatte in dieser Zeit gelernt, schlechte Nachrichten präsentierte man am besten direkt und ohne Schönrederei. Denn schlechte Nachrichten wurden nicht besser, wenn man um den heißen Brei redete.
»Was sich auf Ursus ereignete, hat sich in elf weiteren Systemen wiederholt«, begann der Geheimdienstchef seinen Bericht. »Zu den Kolonien, die gefallen sind, gehören unter anderem Oreanus, Edinburgh, Deltona, Kensington und Rainbow. Außerdem haben wir die Flottenbasis auf New Born und die Raumfestung im New-Zealand-System verloren.«
Präsident Magnus sah auf. Seine Augen war trübe vor Trauer und Schmerz. »Unsere Verluste?«
»Waren verheerend«, antwortete die einzige Frau der Runde. Admiral der Flotte Maria Antonetti rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Es war klar, dass sie am liebsten geschwiegen hätte, doch ihre Dienstauffassung zwang sie zu reden. Der Präsident hatte gefragt und die Beantwortung dieser Frage fiel in ihr Ressort. Während sie redete, strich sie sich eine Locke ihrer brünetten Löwenmähne hinter das linke Ohr.
»Wir haben die 3., 7. und 11. Flotte verloren.«
»Doch nicht etwa vollständig??«
»Beinahe. Zusammen erlitten die drei Flottenverbände fast achtzig Prozent Verluste. Die überlebenden Schiffe sind verstreut und ziehen sich in kleinen Grüppchen von der Frontlinie zurück. Es wird Zeit brauchen, sie wieder zu sammeln, und selbst dann werden sie eine ganze Weile nicht einsatzfähig sein.
Zum Glück war Kehler so umsichtig, sich nicht auf eine Verteidigung der Ursus-Kolonie bis zum letzten Mann einzulassen. Somit ist seine 5. Flotte noch relativ einsatztauglich. Allerdings mit fast fünfunddreißig Prozent Verlusten. Trotzdem hätte es weit schlimmer kommen können.«
»Das Ganze ist ein absoluter Albtraum.« Magnus schlug erneut die Hände über dem Kopf zusammen. Die Klimaanlage des Präsidentenpalais war defekt und alle Anwesenden litten unter der derzeitigen Hitzewelle. Aber obwohl es August und die Temperatur für Oslo ungewöhnlich warm war, schlugen über dem Präsidenten Wellen der Eiseskälte zusammen und er fröstelte. Eine Kälte, die sich nicht durch das Aufdrehen der Heizung hätte vertreiben lassen.
»Eine Katastrophe«, murmelte General Ephraim MacCullogh verdrossen. Der Oberkommandierende des Marine Corps fuhr sich mit einer Hand über den kahlrasierten, kantigen Schädel. Obwohl es in dem Büro über 30 Grad warm sein musste, war die Uniform des Marines geradezu penibel bis zum Kragen zugeknöpft. Mehrere dicke Schweißperlen rannen ihm über die Stirn und Magnus bewunderte seine Disziplin, sie nicht mit dem Ärmel der Uniform wegzuwischen.
General Daniel Sutter, Oberkommandierender der TKA, reichte Magnus wortlos eine Datendisc, die dieser mit zitternden Fingern annahm und in einen Schlitz auf der rechten Seite seines Schreibtischs steckte.
Nahezu ohne Verzögerung erschien flackernd ein Hologramm über der Eichenholztischplatte. Es war eine vollständige Darstellung der ruulanischen Vorstöße, komplett mit Schätzungen der aktuellen freundlichen und feindlichen Verluste sowie Hochrechnungen der vermuteten nächsten Ziele. Drei Systeme zwischen den eigenen und ruulanischen Linien glühten orange und zeigten damit an, dass sie derzeit noch verbissen umkämpft waren. Doch ein System fiel Magnus besonders ins Auge. Es befand sich an der äußersten Grenze des menschlichen Raums und war ebenfalls in Orange gehalten. Alle Systeme um diese einzelne, isolierte Enklave herum, glühten in Rot, um anzuzeigen, dass sie sich bereits in Feindeshand befanden.
»Was ist das?« Er deutete auf das einzelne System.
Sutter schnaubte kurz auf. Der grauhaarige, schmächtige TKA-General hatte als Tribut an die Hitze die obersten zwei Knöpfe seiner Uniform aufgemacht.
»Unser derzeit einziger Lichtblick. Das ist das Taradan-System.«
»Karpov?«
Sutter nickte. »Seit Negren’Tai waren wir bemüht, das Taradan-System in eine Festung zu verwandeln. Uns war zu jedem Zeitpunkt klar, es würde unsere erste Verteidigungslinie sein. Anscheinend haben sich unsere Erwartungen voll und ganz erfüllt.«
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