»Tugsy, was zum Teufel machst du da unten?«, fragte Larry.
»Ich markiere die Stellen, an denen das Kohlefasergelege delaminiert«, antwortete Tugsy ruhig. Seine blauen Augen blitzten, seine Wangen glänzten rot von den Strapazen an Deck in Wind und Regen. »Die verschiedenen Lagen brechen und reißen auseinander. Das Boot ist in einem ziemlich schlechten Zustand.«
»Was?«, antwortete Larry ungläubig, »der Bug bricht ab? Das ist ja verdammt großartig!«
Tugsy hatte auf Überführungen für Larry und andere schon schlimme Stürme erlebt. Aber nie zuvor hatte er sich mitten in einem Orkan befunden. Segler trainierten nicht für Orkane, weil es einfach nicht vorgesehen war, sich in einem Orkan aufzuhalten. SAYONARA wurde umhergeworfen, ihre Einzelteile ächzten und stöhnten unter den Lasten. Der wachsame und nur wenige Worte sprechende Tugsy – zutiefst loyal gegenüber Larry und dem Boot – tat, was er konnte, um SAYONARA in einem Stück zu halten. Seit frühester Kindheit liebte er Boote, ob es nun Bilder von Holzflößen oder kleine Einbaum-Boote aus umgestürzten Bäumen waren, die Menschen für ihre ersten Entdeckungsfahrten nutzten, oder dieses schlanke weiße Vollblut, für dessen Schutz er nun verantwortlich war.
Die Sekunden, Minuten und Stunden vergingen wie in Zeitlupe. Sogar ein Augenblinzeln fühlte sich wie ein kleiner Luxus an. Es gab keinen Weg, das Boot zu verlassen. Mit Angst war nichts zu erreichen. Der Regen attackierte die Haut wie mit Nadelstichen. Larry war normalerweise immun gegen Seekrankheit. Er fühlte sich immer wohl, wenn er seinen Kampfjet in Schleifen und Loopings steuerte. Aber auch er musste sich nun erbrechen. Er übergab sich mehrere Male, während er SAYONARA durch den Sturm steuerte, und hörte dabei jemanden sagen: »Bist du okay, Kumpel?«
»Nicht wirklich«, dachte Larry bei sich.
Der Funkkontakt war abgerissen, die Kommunikation abgeschnitten. Ein Wasserleck zu Beginn des Rennens hatte dazu beigetragen. Larry dachte darüber nach, was passieren würde, wenn das Boot kenterte. Segler könnten unter dem Boot eingeschlossen werden; Wasser könnte über das Boot einbrechen. Das Ruder oder den Bug zu verlieren würde der Sache ein Ende setzen. Würden sie sinken, hätten sie in der kalten See eine Überlebenschance von kaum mehr als 30 Minuten.
Normalerweise lebte Larry in einer Welt, in der jedes Detail perfekt arrangiert war, in der die Schuhe vor dem Betreten eines Hauses ausgezogen wurden, um die feinen Holzböden zu schützen und Dreck zu vermeiden, in der Autos in wohltemperierten Garagen gehegt und frische Blumensträuße kunstvoll arrangiert wurden. Hier und jetzt konnte kein Geld der Welt Sicherheit kaufen. Er starrte in die schwarze Leere. Kein einziger Stern war zu sehen. Sogar der Bug war kaum mehr auszumachen. Er schimpfte mit sich selbst: »Was für ein Idiot kommt hierher, um sich den Fischen als Fraß vorzuwerfen?«
Der Sturm wütete die ganze Nacht, während sich Larry, Butterworth, Erkelens, Robbie Naismith, Joey Allen und Tony Rae am Steuer abwechselten und sich Klick für Klick an Deck bewegten. Mike »Moose« Howard, SAYONARAS 113 Kilogramm schwerer Grinder, im American Football ein Linebacker im Team der Universität von Südkalifornien und ehemaliger Marinesoldat, hatte ihr Handeln zum Krieg mit der See erklärt.
Larry wusste: Je länger der Sturm andauerte, je höher würden die Wellen anschwellen. Auf den Gipfeln der zwölf Meter hohen Wellenberge wurde SAYONARA von 70 Knoten Wind angegriffen. Wie von einer Peitsche wurde SAYONARA dann in den freien Fall gefegt. Bange Bruchteile von Sekunden dauerte es bis zur Crash-Landung, die sich wie ein Aufprall auf hartem, aber willkommenem Asphalt anfühlte. Dort nahm der Wind in vergleichsweise ruhigen Bedingungen für kurze Zeit auf 40 Knoten ab, bis die nächste Welle in der Höhe eines vierstöckigen Gebäudes anrollte und das Boot wie ein Flugzeug in die Höhe katapultierte, bevor es in den nächsten magenumdrehenden freien Fall ging. Beeindruckt beobachtete Larry, wie Allen und Naismith eine Aluminiumplatte zurechtbohrten und damit den Bug ausbesserten, der sich längst wie ein Strohhalm im Sturm bog. Ihre Unternehmung entsprach dem Versuch, ein Auto während einer Achterbahnfahrt zu reparieren.
Nach 36 Stunden Sturm hatte Larry mit Ermüdung und Dehydrierung zu kämpfen. Der Versuch zu schlafen machte alles nur noch schlimmer. Wenn das Boot im freien Fall war, übertrug sich das auf die Männer in den schmalen Kohlefaserkojen. Man konnte die Kojen zwar mithilfe eines Flaschenzugs v-förmig zusammenziehen, um das Herausfallen zu vermeiden. Doch das half unter diesen Umständen kaum. Larry hatte bei seinen Segelregatten immer ein paar Snickers und Sardinenbüchsen dabei, doch auf dieser Reise gab es keine Hoffnung auf Nahrungsaufnahme. Sogar jeder Schluck Wasser kam wieder hoch. In einem kurzen Moment der Erleichterung sprach Larry über die Gefahren eines WC-Besuchs im Orkan. Es war pechschwarz unter Deck. Jedes Mal, wenn sie in den freien Fall gingen, wurde er durch die Luft und gegen die Kabinendecke geschleudert. »Ich hätte mir ganz leicht das Genick brechen können«, sagte er, »doch das wäre irgendwie ein entwürdigender Tod gewesen.«
Wieder zurück an Deck, warf Larry einen Blick auf die rollende See und hatte eine Idee. SAYONARA segelte auf Steuerbordbug. Die Wellen brachen über die rechte Seite herein. Larry sagte Rüdiger, dass er auf Backbordbug wechseln wolle.
»Dadurch hätten wir einen besseren Winkel zu den Wellen. Ich möchte in Lee von Flinders Island kommen«, sagte Larry in der Gewissheit, dass es die Wellen sind und nicht der Wind, die Segler töten. »Je dichter wir der Insel kommen, je mehr werden die Wellen durch sie blockiert.«
»Ich bin nicht ganz sicher, ob es für die Regatta das Beste ist«, sagte Rüdiger, »ich werde mit Chris darüber sprechen müssen.«
»Mark«, schoss Larry zurück, »lass es mich ganz klar formulieren: Ich möchte, dass das Boot wendet. Oder glaubst du, dass es im Sinne der Regatta ist, wenn wir sinken?«
Erkelens stimmte zu, dass die Wende nicht optimal für das Rennen sei, weil der Kurs sie von der Ziellinie abbrächte. Es sei aber das Beste, um Boot und Leben zu retten.
Mit der Wende veränderte sich der Kurs um 60 Grad. Die Wellen wurden nicht kleiner, doch SAYONARA empfing die Wellen nun direkt mit dem Bug und nicht mehr seitlich. Das Stampfen und der Ritt nahmen an Gewalttätigkeit ab. Während sie sich Flinders Island vor Tasmaniens nordöstlichstem Zipfel näherten, zog Larry eine erste Zwischenbilanz: Zwei Männer hatten gebrochene Knochen. Ein Feuer hatte die Navigationsecke lahmgelegt, als die Kabel nass geworden waren und es zu einem Kurzschluss mit anschließendem Kabelbrand kam. Sein Boot war übel zugerichtet und zerschlagen. Aber alle waren an Bord – und am Leben. Die Wende hatte für den entscheidenden Unterschied gesorgt.
Am Morgen des dritten Tages ging die Sonne gerade auf, als SAYONARA in den Derwent River einsegelte, jene Flussmündung, die in die Hauptstadt Tasmaniens führte. Ein lachspinkfarbenes Licht bahnte sich den Weg durch den mauvefarbenen Morgenhimmel. Die Crew der SAYONARA, die Derwent als erste erreichte, wurde von einem kleinen Powerboot und einem Mann an Bord begrüßt, der die Sieger traditionell mit Klängen aus einem schottischen Dudelsack empfing. An diesem Tag waren es Trauermelodien: »When the Battle is Over«, »O for a Closer Walk with God«, »Amazing Grace«. Der Wind war nur noch ein Flüstern, wehte mit weniger als acht Knoten. Larry und seine Crew liefen in das Flusstal ein. Wildblumen, Farne und turmhohe Bäume zierten die Felsschluchten mit ihren roten Uferkanten. Die Wildblumen in ihren blauen, weißen, lila, kaminroten und heidefarbenen Schattierungen waren in ein weiches pinkfarbenes Licht getaucht. Larry schloss seine Augen für einen Moment, lauschte den düsteren Tönen des Dudelsacks und der Wellen, die leise gegen die Bordwand schlugen. Der Wind war zur Ruhe gekommen, die Wellen klangen wie ein beruhigender Herzschlag. Sie hatten die Herrlichkeit des Seins zurück.
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