Bodil El Jørgensen
Julian und der Hexenrekord
Saga
Das Städtchen zwischen den Hügeln unterschied sich nicht groß von den meisten anderen Städtchen. Wenn man einmal davon absah, dass es einen eigenen Prinzen hatte: Julian, Prinz vom Zaubermoor.
Julian war ein Prinz, weil er eine Krone auf dem Kopf trug. Eine eigenartige Krone war das. Berührte man sie, fühlte sie sich wie Luft an, obgleich man sie ganz deutlich sehen konnte. Das lag an der dritten geheimen Hexenregel.
Die Bewohner des Städtchens zwischen den Hügeln waren es nicht gewohnt, einen Prinzen zu haben. Darum gafften sie auch immer so blöde, wenn Julian an ihnen vorbeiging. Aus dem Grund hatte Julian sich angewöhnt, eine grüne Wollmütze zu tragen, die seine Mutter ihm gestrickt hatte.
In dem Städtchen zwischen den Hügeln war es Herbst geworden. Draußen bei der verfallenen Hütte am Rand des Zaubermoors waren längst die Birnen von den uralten Birnbäumen gefallen und faulten im hohen Gras vor sich hin. Julian schaute jeden Tag mindestens einmal dort vorbei. Vorsichtshalber, um nachzusehen, ob sein Freund und Lehrmeister, der große, alte Hexenspezialist Posemuckelmats, vielleicht zurückgekehrt war. Aber bei jedem seiner Besuche fand er die Hütte leer vor.
Am ersten Tag der Herbstferien hatte Julian sich in der Bibliothek ein Buch ausgeliehen. Seine Mutter hatte ihn ganz erstaunt über die Stoffberge hinweg angesehen, die sich um ihre Nähmaschine herum auftürmten, an der sie Tag und Nacht saß und schuftete.
Lesen war nämlich ganz und gar nicht Julians Stärke. Aber jetzt las er. Und das Buch machte ihn richtig wütend. Es handelte von Hexen. Er buchstabierte sich mühsam durch den Text. Je mehr er las, desto wütender wurde er. Das Buch war voller Lügen.
„So ein Quatsch“, murmelte er vor sich hin. „Hexen fliegen doch nicht auf einem Besen durch die Luft, und Warzen auf der Nase haben sie auch keine. Hexen sehen überhaupt nicht wie Hexen aus, sondern wie ganz normale Menschen. Gerade deswegen sind sie ja so gefährlich!“
Er las weiter, Buchstabe für Buchstabe. Das war ja zum Haareraufen.
„So eine Käse“, murmelte er. „Wenn eine Hexe jemanden verhexen will, braucht sie zuerst einmal etwas, was derjenige berührt hat. Das verwandelt sie dann mit Hilfe der zweiten geheimen Hexenregel zu Hexenpulver. Und was ist mit der ersten geheimen Hexenregel? Von der steht hier überhaupt nichts.“
Julian warf das Buch mit einem lauten Knall auf den Tisch und ging hinaus in den kleinen Garten hinter dem Haus, um das Absolut-still-Stehen in einer ungewöhnlichen Körperhaltung ein wenig zu üben.
Er ging in die Hocke, streckte das rechte Bein vor, und hielt die Arme unbequem abgewinkelt vom Körper weg. Zum Schluss neigte er den Kopf noch leicht zur linken Seite und streckte den Zeigefinger der linken Hand in die Luft. In dieser Haltung blieb er mucksmäuschenstill stehen und zählte bis zweihundert. Es dauerte nicht lange und sein eines Bein und der eine Arm begannen schrecklich wehzutun, aber er ertrug die Schmerzen heldenhaft. Nicht einen Millimeter bewegte er sich.
Denn so, und nur so , hatte der große alte Hexenspezialist Posemuckelmats gesagt, indem man mindestens fünf Jahre lang dreimal täglich so lange wie möglich in einer unbequemen Haltung absolut still steht, lernt man die schwierige Hexenspezialistenkunst, mit den nächtlichen Schatten zu verschmelzen.
Julian übte jeden Tag eine halbe Stunde vor dem Frühstück, direkt nach der Schule und bevor er schlafen ging. Er wünschte sich nämlich nichts sehnlicher, als so mit den nächtlichen Schatten verschmelzen zu können, wie es Posemuckelmats gemacht hatte. Damals in einer mondhellen Nacht im Zaubermoor hatte Julian Posemuckelmats beobachtet, wie er in unmittelbarer Nähe der Hexe, die Baroness genannt wurde, mit den Schatten verschmolzen war.
Julian biss die Zähne zusammen und verharrte weiter in der unbequemen Haltung, während er noch einmal bis hundert zählte. Da entdeckte er plötzlich seine Mutter in der Terrassentür. Sie sah ihn verwundert an und blinzelte zigmal schnell hintereinander.
„Hör mal“, sagte sie und winkte Julian mit der Lokalzeitung zu, die sie in der Hand hielt. „Heute Abend gastiert ein Zirkus in der Stadt. Auf dem Platz vor dem Einkaufszentrum. Es ist der Zirkus Sommerhaar. Da gehen wir hin, ja? Um zu feiern, dass du jetzt Herbstferien hast.“
Julian war so begeistert, dass er beinah das Gleichgewicht verloren hätte. Er liebte Zirkus.
Auf dem Platz vor dem neuen Einkaufszentrum war ein riesiges Zirkuszelt aufgebaut. Aus dem Eingang des Zeltes strömten Licht und gedämpfte Zirkusmusik in die beginnende Abenddämmerung hinaus. Julian und seine Mutter gingen schneller. Und kurz darauf traten sie in das proppenvolle Zirkuszelt, um ihre Plätze einzunehmen. Julian saß auf einem rot gepolsterten Sitz, seine Mutter auf einem weißen. Das waren richtig tolle Plätze: dritte Reihe, gleich an der Manege. Julian sah seine Mutter erstaunt an. Er hätte nicht gedacht, dass sie sich das leisten konnten.
„Es sind ja schließlich Herbstferien“, flüsterte sie. „Und ich hab gerade ein bisschen Geld für die Kostüme bekommen, die ich für die Theateraufführung im Gemeindehaus genäht habe.“
Da wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Manege gelenkt, weil plötzlich ein Trommelwirbel ertönte. Ein Vorhang glitt zur Seite. Der Zirkusdirektor betrat die Manege und hieß die Besucher in echter gebrochener Zirkussprache willkommen. Als Julian genauer hinsah, stellte er fest, dass der Direktor eine Direktorin war. Sie trug einen schwarzen Paillettenfrack und zeigte ein strahlend weißes Zirkuslächeln.
Die Trompeten schmetterten einen Tusch, worauf sich unter der Zeltkuppel drei Trapeze aufrollten. Im gleichen Moment kam eine Gruppe Luftakrobaten hereingerannt. Wenige Sekunden später schwangen sie hoch über der Manege an ihren Trapezen und wirbelten mit dreifachen Salto durch die Luft. Julian und seine Mutter juchzten vor Freude. Sie waren beide völlig begeistert von den Luftakrobaten.
Danach folgte eine Nummer nach der anderen, eine aufregender als die andere. Es gab eine Pferdenummer und eine Seehundnummer, eine Nummer mit starken Männern, die Eisenstangen verbogen und auf den Bäuchen ihrer Kollegen Gartenwegplatten mit einem Handkantenschlag zerlegten.
„Wann wohl die Clowns kommen?“, fragte Julians Mutter laut in dem Versuch, den Applaus für die starken Männer zu übertönen.
Das sagte sie nach jeder Nummer, weil sie die Clowns nun mal am tollsten fand.
Aber jetzt wurden erst einmal Zauberkunststücke gezeigt. Die Zauberkünstlerin war die Direktorin persönlich, jetzt in einen rot schillernden Umhang gehüllt mit einem sehr langen, silbernen Zauberstab in der Hand.
„Das ist ja Klasse“, sagte Julians Mutter. „Eine Frau als Zauberer. Das sieht man nicht alle Tage.“
Die Zauberkünstlerin jonglierte elegant mit dem Silberzauberstab.
„Ich möchte jetzt einen der Zuschauer bitten, in die Manege zu kommen und mir zu assistieren, indem er meinen Zauberstab hält“, rief sie. „Wer ist der Erste?“
„Los, beeil dich“, flüsterte Julians Mutter und stupste ihn aufgeregt in die Seite.
Julian sprang auf und bahnte sich einen Weg durch die Zuschauerreihen, aber er war zu spät. Direkt vor seiner Nase sprang ein kräftig gebauter Junge aus der ersten Reihe in die Manege.
„Hier haben wir unseren Gewinner!“, rief die Zauberkünstlerin und überreichte dem Jungen den silbernen Zauberstab.
Julian ging enttäuscht an seinen Platz zurück.
Die Zauberkünstlerin nahm ihren Zylinder ab und stellte ihn mit der Öffnung nach oben auf den Tisch. Dann gab sie dem Jungen ein Zeichen, mit dem silbernen Zauberstab auf den Hut zu zeigen, und führte mit den Händen komplizierte Bewegungen in der Luft aus. Da sprang eine weiße Maus aus dem Hut. Und noch eine, und noch eine. Es ging so lange weiter, bis man glauben konnte, man habe es mit einer Sinnestäuschung zu tun. Am Ende wimmelte die ganze Manege von weißen Mäusen. Und das waren erstaunlich gut dressierte Mäuse. Kaum landeten sie mit den Pfoten in den Sägespänen auf dem Boden, begannen sie in kleinen Kreisen um sich selbst zu drehen. Tosender Applaus brach los. Die Zauberkünstlerin verbeugte sich und mit ihr der glückliche Junge, der ihren Zauberstab halten durfte.
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