Das Bild des Teppichwebens könnte fälschlicherweise eine lineare zeitliche Abfolge der einzelnen Fäden und Bausteine suggerieren. Meist sind mehrere, manchmal sogar alle Fäden gleichzeitig wirksam und bedingen einander. Als Metapher für diese Gleichzeitigkeit, Verwobenheit und wechselseitige Bedingtheit bietet sich ein Gleichnis aus der hinduistischen Mythologie an: Indras Netz. Es beschreibt ein unendlich großes Netzwerk von Fäden, das sich über dem Palast der Gottheit Indra auf dem Berg Meru ausspannt. In jedem Knotenpunkt des Netzes findet sich ein Juwel mit unendlich vielen Facetten, in denen sich alle anderen Juwelen widerspiegeln. Eine multiperspektivische Sicht, wie wir sie vermitteln wollen, hat stets mehrere dieser Facetten im Blick und was sich in ihnen spiegelt. Dadurch eröffnet sich die Wahl, welche man aufgreift. Im Sinne der Spiegelung begegnen wir den gleichen Themen stets auf neue Weise, wenn sie sich in unterschiedlichen Juwelen widerspiegeln und sich dabei weitere Bedeutungen enthüllen. Querverweise in diesem Buch sollen darauf aufmerksam machen und dabei helfen, diese Verbindungen zu knüpfen und ihnen nachzugehen.
Es bleibt Ihnen als Leserin oder Leser überlassen, wo und wie Sie in das Buch einsteigen. Wir vertrauen darauf, dass es Ihnen gelingt, die Fäden und Juwelen des Netzes immer umfassender zu einem für Sie persönlich sinnvollen Ganzen zu integrieren und mit Ihren eigenen Erfahrungen zu verknüpfen.
Für wen ist unser bunter Teppich gedacht?
Dieser Teppich passt auf den Boden eines Therapieraums, in dem Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten Menschen mit einer onkologischen Erkrankung begleiten. Er vermittelt Einblicke in die Psychoonkologie und deren Konzepte, aber auch in die Themen und Bedürfnisse der Betroffenen im Verlauf der Erkrankung, und er soll inspirieren. Unser Teppich soll einen guten Boden für alle Berufsgruppen bilden, die in der psychosozialen Onkologie tätig sind, sei es in der klinischen Psychologie, der Sozialarbeit, der Seelsorge, der Beratung oder in anderen Bereichen. Um Personen aus allen Herkunftsberufen den Zugang zu unseren Konzepten zu erleichtern, werden viele der Fachbegriffe in einem Glossar erklärt.
Wir wünschen uns sehr, dass sich Ärztinnen und Ärzte aus der Onkologie von unserem Beitrag angesprochen fühlen. Ihnen obliegt es ja, ihre Patientinnen und Patienten angemessen zu informieren, einen Behandlungsplan zu erstellen, die medizinischen Therapien durchzuführen und immer wieder an die individuellen Gegebenheiten anzupassen. Patienten sind auf eine gelingende Kommunikation mit ihren Behandlern angewiesen, die wiederum die Grundlage jeder psychoonkologischen Begleitung bildet.
Wir sprechen auch Hausärzte an, die krebskranke Menschen oft über viele Jahre begleiten; ebenso Pflegepersonen, die in ihrem unmittelbaren und kontinuierlichen Kontakt mit Patienten im stationären Bereich oder in der ambulanten Krankenversorgung an einer therapeutisch wirksamen Kommunikation interessiert sind. Vieles von dem, was wir vermitteln wollen, gilt nicht nur in der Onkologie, sondern auch bei anderen chronischen Krankheiten. Letztendlich sollen unsere Anregungen den kranken Menschen zugutekommen, und vielleicht finden auch diese in unserem Buch etwas Hilfreiches, und sei es, dass sie durch die Lektüre genauer herausfinden und klarer formulieren können, was sie sich von ihren professionellen Begleitern wünschen.
Unabhängig von ihrem beruflichen Hintergrund will das Buch all jene Personen erreichen, die sich sowohl konzeptuell als auch im konkreten Vorgehen einen Überblick über eine patientenzentrierte Onkologie verschaffen wollen. Es richtet sich an alle, die sich dafür interessieren, welche Möglichkeiten Hypnose und Achtsamkeit für die professionelle Zusammenarbeit mit lebensbedrohlich und chronisch kranken Menschen allgemein bieten.
Wir hoffen, Sie für die Komplexität begeistern zu können, die unserer multiperspektivischen und vernetzten Sichtweise innewohnt. Wer einfache, störungsspezifische Rezepte erwartet, wird enttäuscht werden. Wer sich von der Vielfalt der in diesem Buch anklingenden Sichtweisen und Möglichkeiten inspirieren lässt, kann im Vertrauen auf eigene kluge bewusste und unbewusste innere Anteile neugierig sein, was vom Angebotenen Resonanz auslöst und Ihnen in der Begegnung mit Ihren Patientinnen und Patienten im passenden Augenblick wieder einfällt.
Und damit sind wir bei der letzten Metapher, die unser Buch durchzieht und unser Denken prägt. Sie stammt aus dem Bereich der Musik: Resonanz. Resonanz bedeutet ein Schwingen auf derselben Wellenlänge, das Verbindung schafft. Resonanzerfahrungen in menschlichen Beziehungen und mit der Natur können verwandeln und Verstummtes wieder zum Klingen bringen. Sie sind heilsam und können beglücken – wie das Singen der Vögel. Für einen Patienten auf mitfühlende Weise präsent zu sein, sich auf ihn einzustimmen und mit ihm in Resonanz zu gehen, ist die Basis jeder Therapie und für sich allein schon heilsam. Menschen einzuladen, mit sich selbst in Resonanz zu sein, mit dem, was sie im Kern ausmacht und sie lebendig werden lässt, ist der Weg, den wir vorschlagen.
In diesem Sinne wünschen wir uns, dass unser Buch zu vielen gelingenden Resonanzerfahrungen beitragen kann.
Salzburg und München im Frühling 2021 Michael E. Harrer und Hansjörg Ebell
Anmerkung: Uns ist wichtig, zumindest in der Einführung ausdrücklich Leserinnen und Leser anzusprechen, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Ärztinnen und Ärzte, Frauen und Männer aus allen Berufsgruppen, aber auch Patientinnen und Patienten, Klientinnen und Klienten. Wenn wir in der Folge das generische Maskulinum verwenden, dann tun wir das auf Wunsch des Verlags im Sinne einer leichteren Lesbarkeit.
Als Ärzte sprechen wir in diesem Buch von Patienten (und nicht von Klienten), auch um das mit der Krankheit verbundene Leiden zu würdigen (lat. patiens, dt. »erduldend, leidend«). Wenn wir handelnde und behandelnde Personen als Behandler bezeichnen, meinen wir Vertreter und Vertreterinnen aller in einer zeitgemäßen interdisziplinären onkologischen Versorgung beteiligten Berufsgruppen, deren Aufgaben und Themen sich überschneiden.
2Begleitung ein Stück des Weges: Die Geschichte von Frau S.
Frau S. wird unmittelbar nach der Geburt ihres ersten, gesunden Kindes mitgeteilt, dass sowohl die chirurgische Entfernung eines Eierstocks als auch eine anschließende Chemotherapie notwendig seien. Die letzten drei Monate ihrer Schwangerschaft muss die 35-jährige Patientin wegen vorzeitiger Wehen in der Universitätsklinik stationär behandelt werden. Sie muss strikte Bettruhe einhalten, weil die wehenhemmenden Medikamente die Leber so schwer belasten, dass sie abgesetzt werden müssen. Eine Zyste im linken Eierstock wird immer wieder mittels Ultraschall untersucht. Die häufigen Kontrollen, die von Frau S. als ausweichend erlebten Erklärungen und der besorgte Gesichtsausdruck des untersuchenden Arztes steigern ihre Ängste, es könnte sich um eine bösartige Gewebeveränderung handeln. In der bei der Entbindung mittels Kaiserschnitt entnommenen Gewebeprobe werden dann tatsächlich Krebszellen gefunden. Aus dem Verdacht wird Gewissheit. In einer Folgeoperation wird der betroffene Eierstock entfernt. Bei diesem Eingriff entleert sich Zysteninhalt in den Bauchraum. Darum wird eine anschließende Chemotherapie aus medizinischer Sicht für unbedingt erforderlich gehalten. Der erste Therapiezyklus erfolgt unmittelbar nach der zweiten Operation und löst bei Frau S. extreme Übelkeit mit Erbrechen aus.
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