»Also gut«, sagte er.
In letzter Zeit dachte Thorne nicht gern darüber nach, ob vielleicht auch er sich damit schwertat. Seine Empathie – oder das, was er dafür gehalten hatte – hatte zehn Jahre zuvor genug Unheil angerichtet. Trotzdem war es für ihn ziemlich offensichtlich, welche der beiden Frauen, die vor ihm saßen, die Mutter des vermissten Kindes war. Sie schüttelte weinend den Kopf und klammerte sich am Rand der Bank fest, während die andere reglos geradeaus starrte. Der Junge blickte auf seine Füße und stocherte mit einem abgebrochenen Ast im sandigen Boden herum.
Boyle stellte sie einander vor.
Maria Ashton, die ältere der beiden Frauen, blickte zu ihnen hoch, hörte aber nicht auf, sich mit einem Knäuel aus feuchten Papiertaschentüchern das Gesicht abzutupfen. »Ich hab die beiden nur ein paar Sekunden aus den Augen gelassen, das schwöre ich.« Sie nahm die Hand herunter und wandte sich ihrer Freundin zu. »Ein paar Sekunden, mehr nicht.«
Thorne bemerkte, dass er die Situation falsch gedeutet hatte. Offenbar war die jüngere Frau diejenige, nach deren Sohn der Wald durchkämmt wurde. Sie sagte nichts, ihr Gesicht war eine starre Maske, auch wenn Thorne die mühsam unterdrückte Angst nicht entging. Genauso wenig wie das, was sich in ihren Augen offenbarte. Eine Grimmigkeit.
»Es hilft nichts, wenn Sie sich Vorwürfe machen«, sagte Boyle.
»Auf keinen Fall«, stimmte Docherty ihm zu.
Thorne trat einen Schritt auf Maria Ashton zu und deutete mit dem Kopf auf den Jungen. »Hat Ihr Sohn irgendetwas gesagt, als er zurückgekommen ist?« Er beugte sich zu dem Siebenjährigen hinunter, doch der Junge löste den Blick nicht vom Boden und von dem Stock, mit dem er inzwischen noch heftiger stocherte.
Die Frau unterdrückte ein Schluchzen und schüttelte den Kopf.
»Überhaupt nichts?«
»Josh war völlig durcheinander.« Sie griff nach der Hand ihres Sohnes. »Hysterisch.«
»Und seitdem hat er nichts gesagt? Vielleicht …«
Boyle hob die Hand und unterbrach Thorne. »Lassen wir die Uniformierten ihre Arbeit machen.« Docherty nickte zustimmend. »Wir müssen Mrs Ashton und Mrs Coyne so schnell wie möglich befragen. Das Revier Highgate dürfte der beste Ort dafür sein.«
Sofort wurde die jüngere Frau lebendig. Sie schaute Boyle an, als wäre er geisteskrank, und sagte scharf: »Ich gehe nirgendwohin.«
»Hm«, sagte Boyle.
»Das meine ich ernst.«
Boyle hob eine Hand, als wollte er kapitulieren. »Ich verstehe, dass Sie erregt sind, aber es ist wichtig, dass wir Ihre Aussagen aufnehmen, solange die Erinnerungen noch frisch sind.«
Catrin Coyne schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Nicht, bevor hier nicht jeder einzelne Zentimeter abgesucht ist.« Sie schaute zu Docherty auf. »Warum kann ich nicht bei der Suche helfen?«
»Wir könnten beide helfen«, sagte Maria.
Catrin starrte Docherty immer noch an. »Ich kenne mich im Wald aus, und ich weiß, welche Stellen Kieron am meisten liebt.«
»Diese Information haben wir schon von Ihnen bekommen«, sagte der Inspector. »Das war sehr hilfreich.«
»Vertrauen Sie mir.« Boyle beugte sich vor und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Die Frau sah aus, als hätte er ihr einen Stromschlag verpasst. »Das Beste ist, wenn wir Sie aufs Revier bringen. Ich verspreche Ihnen, dass Sie es als Erste erfahren, wenn wir irgendetwas finden.«
Thorne sah, wie ein Schatten über Catrins Gesicht huschte und Maria die Hand vor den Mund schlug. Er warf Boyle einen Blick zu. Offenbar hatte der DI selbst begriffen, was er gesagt hatte. Wie es geklungen hatte.
»Irgendetwas« implizierte, dass er mit einer Leiche rechnete.
»Wir nehmen mein Auto«, erklärte Boyle schnell. Er wandte sich an Thorne. »Tom, Sie folgen mir mit DC Roth. Ich habe schon über Funk Bescheid gegeben. Der Chef erwartet uns dort.«
Kurz darauf machte sich die lose Gruppe auf den Weg zu dem Tor, durch das Thorne gekommen war. Boyle und die Frauen gingen voraus, Thorne und Ajay Roth folgten in zehn Metern Abstand. Inzwischen waren noch mehr uniformierte Beamte zu sehen als zuvor, auch wenn manche nicht viel zu tun schienen. Thorne, der sich leise mit Roth unterhielt, sah einen Beamten hinter einem Baum eine schnelle Zigarette rauchen.
»Sie müssten ihn längst gefunden haben.« Roth schob eine Hand unter den Rand seines Turbans und kratzte sich. »Meinen Sie nicht?«
»Das Gelände ist groß.« Thorne beobachtete das Trio vor ihnen. Er sah, dass Gordon Boyle sein Bestes tat, um die Frauen zum Weitergehen zu drängen. Und er registrierte, dass Maria Ashton und Catrin Coyne einen langen Blick wechselten und deutlich Abstand voneinander hielten.
»Trotzdem«, sagte Roth.
Sie waren nur noch wenige Meter vom Tor entfernt, und Thorne hielt den Autoschlüssel bereits in der Hand. In diesem Moment machte die Gruppe vor ihnen abrupt halt. Catrin Coyne drehte auf dem Absatz um und rief den Namen ihres Sohnes in den Wald hinein. Noch bevor ihr Schrei verhallt war, rief auch Josh Ashton nach seinem Freund, bis seine Lungen zu platzen schienen. Seine Mutter begann wieder zu weinen.
In Fällen wie diesem lag die oberste Priorität zunächst darauf, so schnell wie möglich die notwendigen nächsten Schritte einzuleiten. Boyle hatte das Revier Highgate vorgeschlagen, gleich neben dem Amtsgericht des Bezirks Haringey, weil es dem Park am nächsten lag.
Andy Frankham erwartete sie an seinem Schreibtisch.
Er wirkte, als wolle er gleich zur Sache kommen.
Als Detective Chief Inspector des in Islington angesiedelten Dezernats für Schwerverbrechen war er de facto der Ermittlungsleiter in diesem Fall. Wahrscheinlich hatte er, noch während Thorne im Pub gesessen hatte und die ersten Streifenpolizisten im Highgate Wood zusammengezogen worden waren, die Zügel in die Hand genommen und ein Team zusammengestellt. In der Hoffnung, wenn auch nicht der Erwartung, dass es nicht gebraucht würde.
Frankham stellte sich den beiden Frauen vor. Seine Stimme klang sanft, aber geschäftsmäßig. Maria Ashton trat einen Schritt vor, um seine Hand zu schütteln, während ihr Sohn sich an ihren Mantel klammerte.
Catrin Coyne nickte einfach und schaute am DCI vorbei zu dem uniformierten Beamten hinter dem Schreibtisch.
»Ich bin nicht so dumm, Ihnen zu sagen, Sie sollen sich keine Sorgen machen«, sagte Frankham. »Ich habe selbst Kinder. Aber ich will Ihnen versichern, dass ich sämtliche zur Verfügung stehenden Ressourcen nutzen werde, um Kieron zu finden.«
»Danke«, sagte Maria.
Thorne registrierte den Blick, den Catrin Coyne ihrer Freundin zuwarf. Er meinte, eine Spur von Widerwillen zu entdecken.
Es ist nicht dein Sohn, der vermisst wird.
Er spürte den nachvollziehbaren Ärger der Frau an der Art, wie sie unbewegt an Ort und Stelle verharrte, daran, wie sie atmete.
Hättest du auf sie aufgepasst, was deine Aufgabe gewesen ist …
»Im Augenblick ist es wichtig, schnell die ersten Aussagen aufzunehmen.« Frankham schaute den Jungen an. »Vor allem von Josh.«
Maria zog ihren Sohn dicht an sich. »Joshy? Willst du dem Polizisten erzählen, was im Wald passiert ist?«
Der Junge machte einen Schritt zurück, als würde er aus irgendeinem Grund schmollen. Er trat an ein Anschlagbrett und starrte es mit dem Rücken zu ihnen an. Dann ging er zu einer Reihe von Plastikstühlen und ließ sich auf einen fallen.
»Er ist durcheinander«, sagte Maria. »Das ist doch verständlich.«
Catrin Coyne drehte sich zu ihr um und starrte sie an.
»Absolut«, sagte Frankham. »Das ist ganz natürlich. Also gut, ich lasse Sie für den Moment in der Obhut von Inspector Boyle und den anderen. Falls Sie mit mir sprechen wollen, worüber auch immer, sagen Sie einfach einem von ihnen Bescheid.«
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