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Mein Handy-Display zeigte fünf verpasste Anrufe von meiner Mutter. Robin und meine Freunde hatten mir im Laufe des Tages auch einige Nachrichten geschrieben. Keine davon habe ich gelesen, denn im Grunde kannte ich die Fragen, aber die passenden Antworten darauf nicht: Wie ich wohl angekommen war, ob alle nett zu mir waren, wie es mir ginge. Mir ging es miserabel, die Bestie in mir rebellierte lauthals, sodass ich drauf und dran war, die Therapie zu beenden, bevor sie überhaupt angefangen hatte. Meine Freunde und meine Familie wollte ich mit der Wahrheit nicht beunruhigen. Gleichzeitig wollte ich sie nicht anlügen. Deswegen schwieg ich. Und litt, während ich beim Abendessen voller Ekel in die Butter pikste und mich für meine Schwäche hasste. Warum konnte ich nicht einfach die verdammte Butter auf das verdammte Vollkornbrot schmieren, den Vollfett-Käse darauflegen und abbeißen? Wie normale Menschen? Jedenfalls tat das die Essbegleitung. Und sie sollte ja das Vorbild am Tisch der Essgestörten sein. Neben mir saß Pascal. Er aß langsam, aber wenigstens aß er seine Butter, ohne zu weinen. Meine Tränen hat er als erster mitbekommen und direkt angefangen, von seinem Garten daheim zu erzählen. Von seinen liebsten Blumen und Sträuchern. Ich war ihm endlos dankbar, dass er nicht versucht hat, mich zu trösten. Ich denke, ich wäre auf der Stelle zusammengebrochen.
Mir gegenüber saß Lisa. Eine normalgewichtige, mittelalte Frau, die innerhalb von wenigen Minuten zwei Brote, 20 Gramm Butter und eine gefühlte Tonne fetten Frischkäse runtergeschluckt hat. Konfrontationstherapie Deluxe. Ihr gegenüber zu sitzen, machte die ganze Sache nicht leichter. Und jetzt, da sie fertig war, aber warten musste, bis entweder der letzte aufgegessen oder die goldenen 30 Minuten der „normalen Essenszeit“ vorbei waren, saß sie da und sah mich an. Sah mir beim Weinen zu. Ihr Blick drang stumpf durch ihre schiefe Brille. Was hält sie wohl von mir? Voller Übelkeit legte ich mein Besteck neben den Teller. Bisher hatte ich nur eine Gabel Rotkrautsalat gegessen. Salat zog ich zwar allen Kohlenhydraten vor, aber Rotkraut zählte für mich nicht zu Salat. Es hatte zu viele Kalorien. War seit Jahren ein Tabu-Lebensmittel, das ich gar nicht wirklich auf dem Schirm hatte. Also saß ich da. War teilweise stolz auf mich, dass ich dieses Tabu-Lebensmittel bereits besiegt hatte, fand diesen Stolz aber im selben Moment lächerlich, denn mein Hunger tötete mich. Ich musste die Brote essen. Ich wollte aber nicht. Dann auch noch Lisa mir gegenüber. Diese Blicke. Diese Bewertung. Abwertung. Sie hasste mich. Ich mich auch. Alles war dunkel.
„Kommst du mit, Scarlett?“
„Was?“
Neben dem Adlerauge, mir schräg gegenüber, aß Penelope ihre Vollkornbrote. Sie war außergewöhnlich schön. Nicht nur hübsch. Nein, schön. Ihr Wesen strahlte eine besondere Wärme aus, die ich in dieser Form bisher noch nicht bei vielen Menschen erleben durfte.
„Mittwochs wird immer in der Kapelle gesungen. Zwei ehrenamtliche Frauen mit Gitarre und Klavier begleiten alle Patienten, die mitsingen wollen. Jeder darf kommen, sich ein Gesangbuch schnappen und mitmachen. Man kann sich sogar Lieder wünschen. Pascal und ich und ein paar andere gehen immer hin. Magst du nachher mitkommen?“ Mein Herz überschlug sich fast bei dem Gedanken, meinen ersten Abend nicht allein verbringen zu müssen, sondern direkt Anschluss an die Gruppe zu erhalten. Die letzten Monate hatte ich mich immer mehr von meinen Freunden distanziert, mich ganz der Beziehung zu meiner Essstörung hingegeben. Die Einsamkeit fraß mich und meinen Appetit auf. Dass ich mich nach menschlicher Nähe sehnte, war mir schon vor einiger Zeit klargeworden. Wie ich das ändern sollte, war mir jedoch schleierhaft. Immerhin war ich vielbeschäftigt. Ich musste lernen, Sport treiben und mein gesundes Essen intensiv planen. Für Freunde hatte ich einfach keine Zeit mehr gehabt.
„Es sind natürlich christliche Lieder. Das gefällt nicht jedem …“
„Das macht nichts, ich liebe es zu singen und komme gerne mit.“
Sie lächelte mir zu, aber ihre Augen blieben glanzlos und ich fragte mich, warum sie hier war. Nicht, warum sie an dem Tisch war, ich wollte über niemanden urteilen. Essstörungen treffen die verschiedensten Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen und wirken sich auf viele Arten aus. Aber meistens hat es etwas mit Selbstverachtung oder Vernachlässigung zu tun. Penelope war aber bildhübsch und was ich bisher von ihrem Lebenslauf erfahren hatte - Studentin der Physik, Hund, Freund, Ehrenamt - schien sie sehr erfolgreich und intelligent zu sein. Warum war sie nicht glücklich? Warum war sie nicht zufrieden mit sich, so schön und klug, wie sie war?
„Die Uhr“, sagte Herr Specht, die heutige Essbegleitung. Tatsächlich hatten wir nur noch vier Minuten Zeit. Penelope hatte noch ein halbes Brot, das sie schweigend und mit leerem Blick nun schneller kaute. Ich hatte mein Brot bisher nicht angerührt. Aber ich wollte gesund werden. Deswegen nahm ich das Brot in die Hand. Wie lange war es her, dass ich Brot gegessen habe? Gar nicht so lange. Es war vorgestern gewesen. Eine Viertel-Scheibe. Dazu eine riesige Schüssel Salat. Ich konnte Brot essen. Ich war stark. Von einem Bissen Brot würde ich nicht zunehmen. Und eigentlich wollte ich zunehmen. Mein Kampf mit meinen Gedanken machte mich fertig. Die Uhr zeigte noch 30 Sekunden an. Da musste ich an meine Mutter denken, holte tief Luft, biss ab und kaute. Langsam zermahlten sich die Körner in meinem Mund und das trockene Brot wurde zu Brei. Eigentlich ganz lecker, das Vollkornbrot. Nein! Es darf nicht schmecken! Es schmeckt nicht! Aber irgendwie doch? Ich schluckte und die Zeit war vorbei. Ich habe verloren, denn ich habe nicht die volle Portion geschafft. Aber ich habe auch gewonnen, denn ich habe mich überwunden.
„Bereit für den Blitz?“, fragte Herr Specht und ich bekam den nächsten Schub Aggressionen. Der Blitz war das Schlimmste, was die Menschheit bis dato erfunden hatte. Wahrscheinlich ging es auch um die Kopplung von Gefühlen und Essen und Hass. Oder aber die Krankenpfleger geilten sich an unseren depressiven Gedanken auf. Oder benutzten das erlangte Wissen, um schlechte Bücher über Depressionen zu schreiben. Vielleicht traf alles zu.
„Wer möchte begi-“
„Also ich bin total genervt“, fiel Lisa Herrn Specht ins Wort. „Ewig und drei Tage hier rumzusitzen und denen beim Essen zuzusehen. Was für eine Zeitverschwendung.“
„Frau Holz“, begann Herr Specht in einer Tonlage, die man sonst nur bei Kindern, Tieren oder Geistesgestörten benutzt. Dann fiel mir ein, dass wir alle hier wohl geistesgestört waren. Oh Mann. „Sie wissen, dass sich das Sättigungsgefühl erst nach etwa zwanzig Minuten einstellt. Diese Zeit sollten Sie mindestens für Ihr Essen brauchen. Sie waren heute noch etwas zu schnell.“
„Wenigstens esse ich meine Portion und sitz nicht einfach nur blöd rum und-“
„Frau Holz, Sie kommen nachher noch ins Pflegebüro.“ Sein Tonfall war plötzlich sehr bestimmt und er gab das Wort an Pascal weiter. Auch, wenn er sie unterbrochen hatte, ist mir nicht entgangen, dass Lisa mich meinte. Dass sie mich angegriffen hatte. Dass ich ein Störenfried war. Dass meine Anwesenheit sie belästigte. Warum war ich hier? Warum war ich überhaupt am Leben? Wenn ich doch nur eine Last war?
„Ich habe alles gegessen und bin pappsatt“, lachte Pascal und rieb sich über den Bauch. „Das wird wieder eine schwierige Nacht werden.“
„Wenn Sie Schmerzmittel brauchen, dann-“
„Bisher tut’s auch die Wärmeflasche, danke.“
„Frau Samt?“
„Also, ich habe alles gegessen. In der richtigen Zeit“, sagte Penelope kurz und knapp.
„Und das Sättigungsgefühl?“
Sie lachte unbeholfen, biss sich auf die Unterlippe und nickte. „Is okay.“
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