Zwar hatte ich noch immer tausend Ängste - mein Magen sollte mich in den nächsten Tagen mehr quälen als jemals zuvor - aber in diesem Moment wusste ich, dass ich all meine Sorgen nicht mehr allein durchstehen musste.
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Ich freue mich richtig doll auf Nicoles zehnten Geburtstag! Schon den ganzen Tag bin ich super aufgeregt, dass mir ganz schlecht ist. Nach der Schule gehe ich heim. Mama hat lecker gekocht. Papa schmeckt es nicht. Er schreit. Schnell mache ich noch meine Hausaufgaben, dann gehe ich los mit meinem Geschenk. Es sind nur ein paar Straßen bis zu ihr. Nicole ist meine allerbeste Freundin. Aber ich bin nicht ihre beste Freundin. Das ist Tammy. Tammy ist dünn. Und Tammy hat öfter Zeit zu spielen. Sie lernt nicht so viel wie ich.
Bei Nicole bin ich die erste. Obwohl ich sie in der Schule schon gesehen habe, umarme ich sie und wünsche ihr nochmal alles Gute zum Geburtstag. Macht man das so? Die anderen kommen auch langsam und wir sitzen im Kreis auf dem Boden, während Nicole die Geschenke auspackt. Hoffentlich gefällt ihr mein Lesezeichen! Ich habe es selbst gebastelt. Das hat ganz schön lange gedauert. Sie bedankt sich und öffnet Tammys Geschenk. Pferdeaufkleber mit Glitzer. Sie freut sich mega. Bei mir hat sie sich nicht so gefreut! Ich hätte auch lieber etwas kaufen sollen. Das nächste Mal höre ich nicht auf Mama. Selbst gemachte Dinge sind wohl doch nicht so besonders. Max und Hanna mag ich nicht. Sie sind immer gemein zu mir und ich finde es blöd, dass Nicole sie auch eingeladen hat. Aber ich muss ja nicht mit ihnen spielen.
„Lasst uns ein bisschen rausgehen und Fangen spielen“, sagt Nicoles Mutter. Vor ihr habe ich Angst. Noch nie habe ich sie lachen gesehen. Und wenn sie auf mich schaut, schaut sie noch viel böser. Und sie schaut meinen Bauch an. Dann verschränke ich immer die Hände vor dem Bauch und ziehe ihn ein, so wie es mir Mama mal gezeigt hat.
Draußen ist es schön. Die Sonne scheint und Nicole, Tammy und ich gehen Arm in Arm.
„Da vorne, der Gartenzaun“, sagt die Mutter. „Wer zuletzt da ist, hat verloren.“ Alle rennen los. Ich auch. Ich verliere. So geht das Spiel weiter. Unser Weg geht ziemlich steil berghoch. Und der Verlierer muss den nächsten fangen, bis zu dem Ziel, das die Mutter aussucht. Aber wir haben schon drei Ziele erreicht, ohne dass ich jemanden fangen konnte. Mir ist ganz warm. Vom Rennen und von dem peinlichen Gefühl. Ich schlucke und will nicht weinen. Max und Hanna zeigen auf mich und kichern. Was sie sagen, kann ich nicht hören. Ich bin noch zu weit unten am Berg. Tammy und Nicole lachen auch. Über mich? Irgendwann bestimmt die Mutter, dass wir nicht mehr rennen müssen, und ich freue mich. Aber jetzt laufen Nicole und Tammy nicht mehr mit mir Arm in Arm. Finden sie mich eklig, weil ich so schwitze? So wie mich Max ansieht, findet er mich bestimmt eklig.
„Alles klar, Fetti?“, neckt er mich, als ich mir die Stirn abwische. Die Mutter läuft neben ihm. Sie sagt nichts. Also sage ich auch nichts. Ich ignoriere ihn, wie sonst auch in der Schule. An den meisten Tagen klappt das ganz gut. Heute nicht. Ich reibe mir die Augen.
Als wir wieder bei Nicole sind, spielen wir mit Puppen und Bauklötzen, aber es ist kein gemeinsames Spiel. Jeder macht irgendwie was anderes. Ich schaue auf die Uhr. Ich will zu Mama. Und Robin. Ich will nach Hause. Irgendwie habe ich Hunger. Sonst gibt es bei Geburtstagen doch Kuchen. Oder? Bei Nicole gibt es keinen Kuchen. Im Kinderzimmer ist nicht besonders viel Platz. Ich versuche mich klein zu machen und knie mich hin.
„Au, du zerquetschst meinen Fuß!“, quietscht Nicole und ich murmle eine Entschuldigung. Wie peinlich! Ich bin wirklich nur im Weg. Wo soll ich hin, dass ich die anderen nicht störe? Was könnte ich sagen, um früher heimzugehen? Ich könnte sagen, dass Mama gesagt hat, ich muss noch beim Haushalt helfen. Aber das wäre gelogen. Nein. Lügen gehört sich nicht. Ich werde durchhalten. Um 18 Uhr holt mich Mama ab. Nur noch eine halbe Stunde. Die Mutter ruft zum Abendessen. Es gibt Würstchen und Brot. Nichts davon schmeckt. Max sitzt mir gegenüber und bläst die Backen auf. Ich schaue wieder auf das Essen.
„Du, der meint dich“, sagt Tammy neben mir.
„Ich weiß“, antworte ich und möchte alles, was ich bisher gegessen habe, erbrechen und mein überschüssiges Fett gleich mit. Ich will nach Hause, ein großes Küchenmesser nehmen und meinen fetten Bauch einfach abschneiden. Haut wächst doch nach. Das muss doch gehen, oder? Warum hat Tammy das gesagt? Ich will Max ignorieren. Wenn ich ihm keine Aufmerksamkeit schenke, hört er irgendwann auf. Wenn ich unsichtbar bin, kann er nicht böse zu mir sein. Jetzt schauen aber auch die anderen zu ihm. Er lacht und bläht die Backen noch mehr auf. Es klingelt an der Tür. Die Mutter geht und kommt gleich wieder.
„Deine Mutter wollte dich schon holen, Scarlett“, sagt sie zu mir. „Aber ich habe ihr gesagt, dass wir gerade am Essen sind und erst noch fertig essen.“
Die Uhr. Es ist 18 Uhr. Jetzt darf ich heim. Ich will nicht fertig essen. Es schmeckt nicht. Wie kann sie es wagen, meine Mama einfach so wegzuschicken? Mama. Sie ist extra zum Haus gekommen, um mich zu holen. Sie wollte mich mitnehmen, aber sie durfte nicht. Mama hat sich umsonst Mühe gemacht. Sie hat wirklich anderes zu tun, als in der Gegend rumzuspazieren. Wie dumm ist das alles? Hoffentlich ist mir Mama nicht böse. Warum muss ich hier sein, wo alles so blöd ist? Warum soll ich dieses eklige Würstchen essen? Ich will heim.
Die Mutter schielt zu mir. „Sie holt dich dann später ab. Iss jetzt fertig.“
Nun passiert es doch. Ich muss heulen. Nicole isst weiter. Tammy auch. Max und Hanna flüstern miteinander. Niemand nimmt mich in den Arm.
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Arielle in Natura kam mir entgegen, reichte mir die Hand und überwältigte mich mit dem schönsten Lächeln der Welt. Ihre unfassbar schönen roten Haare sahen genauso aus wie die Haarpracht meiner Lieblings-Disney-Heldin. Nicht nur leuchteten ihre Augen und waren unnatürlich freundlich, ihre weißen Zähne hätten jede Zahnpastawerbung zum Verkaufsschlager gemacht.
„Herzlich Willkommen auf der Station 3, Frau Schweighart. Ich bin Frau Best und darf Sie in Ihr Zimmer führen. Sie haben Sonnenschein mitgebracht, wie nett von Ihnen.“ Wie das andere Pflegepersonal trug auch sie keine weißen Kittel, sondern gewöhnliche Straßenkleidung. Lediglich ihr Namensschild „A. Best“ verriet, dass sie keine Gestörte war wie ich, sondern für ihre Zeit hier bezahlt wurde. Ich schätzte sie ungefähr auf mein Alter, Mitte zwanzig.
„Ähm, ja. Es hat lange genug geregnet“, antwortete ich und hätte mich für meine dumme Antwort ohrfeigen können. Die Frau mir gegenüber lachte aber und ihre strahlend grünen Augen funkelten.
„Da haben Sie recht! Dass heute ein so sonniger Tag ist, ist ein gutes Zeichen für den Beginn Ihrer Klinikzeit.“ Die Freundlichkeit der Pflegerin kam unerwartet und stand in klarem Kontrast zu dem, was ich im Vorgespräch in der anderen Klinik erfahren habe. Kurz blickte ich über die Schulter, wollte mich von dem netten Mann verabschieden, doch er war bereits verschwunden.
Arielle lief mit mir den langen Flur entlang. Mein Blick konnte sich nur schwer von ihrer roten, gewellten und außergewöhnlich vollen Haarpracht losreißen. Dann sah ich auf ihre wunderschöne Figur. Ihr Körper hatte die Gitarrenform, von der es hieß, sie sei die ideale Form des Frauenkörpers. Und das stimmte, meiner Ansicht nach. Was hatte sie nicht für schöne Hüften! Und dieser Po! Was würde ich dafür geben, so auszusehen? So richtig weiblich. Aber nein, ich war der fette Birnentyp.
Unförmig. Unweiblich. Unmenschlich.
Sie zeigte mir das Zimmer, das ich mit einer alten Dame teilte, die in Jogginghosen auf ihrem Bett saß und vor sich hinstarrte. Als mich Arielle vorstellte, seufzte sie schwer und ich meinte, ihre Schultern noch mehr in sich zusammensacken zu sehen, bevor sie ihren Kopf ein klein wenig hob, um kurzen Augenkontakt mit mir herzustellen. Bravo, dachte ich mir. Das wird bestimmt die schönste Zeit meines Lebens. Und das Bett am Fenster hat sie auch. Allzu sehr konnte ich mich aber nicht über meine neue Nachbarin aufregen, weil Arielle mir einige Stapel Papiere in die Hand drückte, die ich so schnell wie möglich ausfüllen sollte. „Keine Eile, aber je früher, umso besser.“ Jaja, schon klar. Beim Überfliegen der Unterlagen fiel mir auf, dass ich das alles schon einmal ausgefüllt hatte.
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