Während ich im Bad meines Patientenzimmers stand, die Hände auf meinem Bauch, der sich erschreckend nach außen wölbte, klopfte es zaghaft an der Zimmertür.
„Ja?“ Ich öffnete und sah auf spitze Wangenknochen, über denen zwei eng stehende, eingefallene Augen ragten. Obwohl sie müde und erschöpft aussahen, schimmerte ein freundliches Grün durch sie hindurch. Der knochige Kopf steckte auf einem noch knochigeren Körper, dessen Anblick bei mir das Bedürfnis weckte, diesem Menschen kalorienhaltige Trinknahrung zwischen die Lippen zu stecken. „Iss, Forest, iss“, rief ich in Gedanken. „Iss um dein Leben.“
Es war Pascal. Mitte 40, bestimmt zwei Meter groß. Geschätzter BMI von 16. Auch ein Essgestörter. Nach dem Mittagessen hatte er mir erklärt, dass er für die ersten Tage auf der Station mein Pate wäre und mir gerne in Ruhe die Räumlichkeiten zeigen würde. Er war zwar nett gewesen, doch ich hatte mit meinen Gedanken und meinem Selbsthass zu tun, weswegen ich ihn auf später vertröstet hatte. War jetzt schon später? Noch immer fühlte ich mich nicht bereit für zwischenmenschliche Interaktion, Therapie und das Leben an sich.
„Hallo Scarlett, ich wollte einmal schauen, wie es dir geht. Das erste Essen ist immer das schwerste.“
Ich biss mir auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen. Mein Gott, warum war ich nur so labil? Pascal sah mich sofort mitleidig an und legte mir eine seiner zarten Händchen auf meine Schulter. „Alles gut, Liebes. Es wird besser, glaub mir.“
Glauben wollte ich ihm gerne, also ließ ich ihn herein, schluckte und deutete auf einen der beiden Stühle, die an einem seltsam ovalen Tisch am Fenster standen. Er setzte sich, sah mich an und ich erwartete schon, dass er endlos viele Fragen stellen würde, dass ich nun Gefühle erklären müsste, die ich selbst nicht verstand. Pascal jedoch lächelte und begann selbst zu erzählen. Von sich, seinen Kindern, seinem Anfang hier. Er war schon seit fünf Wochen in der Klinik. Sein Untergewicht war auf einen stressigen Alltag als selbstständiger Architekt zurückzuführen. Seine jüngste Tochter hatte vor Kurzem ein Baby bekommen und er nahm ihr das Kleine ab, wo er konnte. „Vielleicht war das alles aber doch etwas zu viel für mich.“ Ein verlegenes Lachen hallte durch das Zimmer. Von einer Ehefrau erwähnte er nichts und ich hütete mich davor, ihn zu fragen. Vielmehr war ich dankbar, dass er mich abgelenkt und mir einen Teil seiner Geschichte anvertraut hatte. Dieser Mann war mir direkt sympathisch und strahlte trotz seines schmalen Körpers eine beruhigende Stärke aus.
„Darf ich dir einen Tipp geben?“
Ich nickte.
„Je schneller du die volle Portion isst, desto eher wirst du wieder gesund. Arschbacken zusammenkneifen, Augen zu, Mund auf und essen.“
Pascals Tipp klang einfach, erweckte in mir aber sämtliche Horrorvorstellungen, dass ich wieder einen gewaltigen Bauch vor mir herschieben würde. Spottgesänge aus der Schulzeit schwirrten in meinem Kopf umher.
„Ich meine es ernst, Liebes.“ Mit sorgenvollem Blick sah er an mir herab und ich schämte mich für meinen Körper. „Du bist so dünn, es ist höchste Zeit, dass du hergekommen bist.“ Nein, du lügst. Schau doch mal richtig hin! Da ist noch genug Fett, das da nicht hingehört. Da, dort und hier auch! Für einen kurzen Augenblick wollte ich das tatsächlich sagen. Dann schwieg ich aber, denn ein kleiner Teil in mir wusste, dass Pascal nicht ganz Unrecht hatte.
Bevor er mit mir auf Erkundungstour gehen wollte, sah er auf meinen Therapieplan und entdeckte, dass ich gleich mein erstes Einzel- und gleichzeitig Aufnahmegespräch mit meinem Therapeuten haben würde. Also brachte er mich nur wenige Meter über den Flur, tätschelte mir nochmals den Arm, sprach mir Mut zu und ließ mich allein.
Kurz darauf öffnete sich die Tür und eine schwarze, junge Frau schüttelte mir energisch die Hand.
„Frau Schweighart? Willkommen, willkommen. Ich bin Katharina Kleist, Ihre Psychotherapeutin. Kommen Sie rein in die gute Stube!“ Sie zeigte auf einen Stuhl und wirbelte in ihrem Büro umher. Der Beistelltisch vor mir war die einzig leere Fläche des Raumes. Ihr Schreibtisch, die Regale und Schränke waren von oben bis unten zugemüllt. Ordner und Unterlagen stapelten sich auf jeder freien Fläche. An den Wänden hingen erdrückend viele Bilder von Schmetterlingen und ich fragte mich, ob diese Einrichtung ein Test war, um Zwangsstörungen bei Patienten zu entlarven. Wie viele Patienten würden nervös auf das Chaos auf dem Schreibtisch starren, bis sie fragen würden, ob sie nicht mal eben ein bisschen Ordnung schaffen dürften.
„Moment, ich muss nur kurz – wo ist denn Ihre Akte?“ Sie drehte mir den Rücken zu und ich nahm mir die Gelegenheit, sie zu mustern. Sie trug einen engen, sehr kurzen schwarzen Rock, dazu eine weiße Bluse mit rosa Flamingos, die transparent genug war, damit man ihren schwarzen BH durchscheinen sah. An ihren dicken Beinen schlängelten sich Dehnungsstreifen hinauf zu der Cellulite ihrer Oberschenkel. „Sodele, hier habe ich alles. Wir können starten.“ Mit einer dünnen Akte setzte sie sich an den kleinen Tisch mir gegenüber, klickte zweimal mit ihrem Kugelschreiber und sah mich an. „Erster Tag heute. Wie aufregend! Was haben Sie schon alles Schönes entdeckt? Wurden Sie gut aufgenommen? Haben Sie schon Ihren Paten gefunden?“
Ihre energische Art war überraschend und einschüchternd.
„Ähm, na ja.“
„Bei der Ankunft ist man immer ein kleines bisschen überfordert, das wird sich legen, keine Sorge.“ Wieder klickte sie mit ihrem Kugelschreiber und ich hoffte, dass das kein nervöser Tick von ihr war. Menschen, die keine Sekunde stillsitzen konnten, brachten mich zur Weißglut.
„Also, ich habe mir Ihre Akte angesehen. Ihre Leberwerte sind katastrophal und Ihr Kaliummangel ist in einem Bereich, in dem wir strengstens Ihr Herz im Blick behalten müssen. Kurzum: Ihr Blut zeigt deutlich Ihre Mangelernährung. Ein Wunder, dass das so lange kein Arzt festgestellt hat.“ Sie schlug den Ordner auf, überflog eine Tabelle und schüttelte den Kopf. „Blutabnahme mindestens zweimal wöchentlich. Das wird dauern, bis sich die Werte normalisieren. Aber Sie sind ja noch ein Weilchen da, oder? An welchen Zeitraum haben Sie gedacht?“
Ich? Woher sollte ich das wissen? Wer war hier der Psycho und wer der Therapeut? Das musste sie mir doch sagen!
„Ähm.“ Ich fixierte einen handgroßen Porzellan-Schmetterling, der neben dem Fenster von der Decke baumelte. „Ich weiß nicht, ich habe ein bisschen recherchiert … Meist sind es so neun, zehn Wochen.“
Sie nickte, klickte mit dem Kugelschreiber und schrieb etwas in ihren Block. „Das kommt natürlich darauf an, wie viel Sie laut Ihrem Gewichtsvertrag pro Woche zunehmen wollen.“
Gewichtsvertrag? Zunehmen? Mein Magen zog sich bei diesen Worten zusammen und ich spannte meinen Körper an, um Fassung zu bewahren. Schließlich hatte sie recht: Ich war nicht zum Spaß hier.
„Im Vorgespräch haben Sie erzählt, Sie hätten erst in den letzten zwei Jahren so viel abgenommen?“
„Ja, also ich habe immer wieder mal abgenommen. Dann auch wieder zugenommen. Ein Auf und Ab. Aber in den letzten Jahren dann nur noch ab.“
„Wie?“
„Mit Sport und gesundem Essen“, antwortete ich. Das war der Satz, den ich schon sehr oft zu sehr vielen Menschen sagen musste, um meinen neuen Körper zu erklären. Frau Kleist aber hob eine Augenbraue.
„Viel Sport“, ergänzte ich. „Und wenig Essen.“
Sie nickte und notierte fleißig, was ich sagte. „Erbrechen Sie auch?“
„Nein, das habe ich nie getan! Kein einziges Mal“, sagte ich fast zu energisch. Das war ein Versprechen, an Robin. Auch wenn es Tage gegeben hatte, an denen ich mich derart vollgestopft gefühlt hatte, dass der Selbsthass mich fast umgebracht hätte, habe ich mir nie den Finger in den Hals gesteckt. Robin zu enttäuschen wäre das Letzte, was ich jemals tun wollte.
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