Und wofür das alles?
„Um erfolgreich die Therapie durchzuführen, ist es wichtig, dass Sie stets Ihre Ziele und Motivationen im Blick behalten.“ Konnte sie Gedanken lesen? Was aber, wenn ich weder Ziele noch Motivationen hatte? Was, wenn mein einziges Ziel der letzten Jahre immer gewesen ist, eine noch niedrigere Zahl auf der Waage zu sehen? Was, wenn meine Motivation stets war, den Hunger und den Muskelkater zu spüren, um mir selbst zu beweisen, wie willensstark und diszipliniert ich war?
„Wissen Sie, was der medizinische Fachbegriff für Magersucht ‚Anorexia nervosa‘ bedeutet?“
Noch immer schluchzend schüttelte ich meinen Kopf.
„Anorexie leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet Appetitlosigkeit. Nervosa kommt aus dem Lateinischen und meint in etwa so viel wie ‚nervlich bedingt‘. Wörtlich übersetzt würde man Ihr Krankheitsbild also ‚nervlich bedingte Appetitlosigkeit‘ nennen. Dabei handelt es sich jedoch eher um psychisch bedingte Kontrolle der eigenen Nahrungszufuhr. Man verhungert den eigenen Körper und spürt natürlich noch Appetit. Eventuell will man es sich nicht eingestehen. Viele Patienten mögen das Hungergefühl. Warum man sich nichts gönnt, hat unterschiedliche Ursachen. Die depressiven Stimmungen dahinter rauszufinden, das wird unsere gemeinsame Aufgabe während der nächsten Wochen sein.“
***
Ich bin ganz aufgeregt. Gerade erzählt Nils, dass er Pilot werden möchte. Das finde ich total cool! Nach ihm werde ich dran sein. Vor anderen laut zu sprechen, macht mir immer ein bisschen Angst. Oft werde ich ausgelacht. Vor allem von den Jungs. Weil ich dick bin.
Es ist Berufswahl-Woche in der dritten Klasse. Wir haben einen ganzen Tag Zeit bekommen, uns zu überlegen, was unser Traumberuf ist. Jetzt müssen wir unsere Ergebnisse der Klasse vorstellen.
„Scarlett will bestimmt mal weniger fett werden“, flüstert einer der Jungen in der Reihe hinter mir und alle lachen.
„Sssch“, macht Frau Schnautz und nickt Nils zu. Er soll weiterreden.
„Oder Model.“
Wieder lachen sie. Am liebsten will ich gar nicht nach vorne gehen. Ich habe Angst. Seit ein paar Wochen fühle ich mich nicht mehr wohl in meinem Körper. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, einmal nicht gehänselt geworden zu sein. Aber als ich einmal mit Mama in der Eisdiele war und das so seltsam lief … das tut noch immer weh. Ich hatte wohl blöd ausgesehen, weil ich die Hände auf dem Rücken verschränkt hatte.
„Stell dich nicht so hin, da drückt sich dein Bauch raus“, hat Mama gesagt. Jetzt weiß ich, wie ich richtig stehe, damit ich nicht so dick aussehe. Hände einfach vor den Bauch. Das tue ich jetzt immer. Trotzdem lachen mich die anderen aus.
„Du bist dran, Scarlett.“
Sofort laufe ich zur Tafel. Irgendjemand nuschelt: „Fettsack.“ Das Lachen tut weh. Vorne angekommen, suche ich Nicole und Tammy. Sie anzusehen, gibt mir Halt. Beide beachten mich aber gar nicht, sondern tuscheln und kichern mit Frederik.
„Mein Traumberuf-“
„Lauter!“, ruft Gregor. Wieder Lachen. Mir ist heiß. Hoffentlich sehen die anderen nicht, wie sehr ich zittere.
„Ich will Sängerin werden“, sage ich etwas lauter und klammere mich an meine Karteikarten. Noch mehr Lachen.
„Ich singe gerne und-“
„Du bist doch viel zu fett!“, ruft jemand.
„Sängerinnen müssen hübsch sein!“
„Sssch“, macht Frau Schnauz und sieht mich erwartungsvoll an. Aber ich kann nicht mehr weiterreden. Mein Hals ist trocken. Ich will weinen. Aber nicht vor den anderen.
„Ich … muss aufs Klo“, sage ich stattdessen, renne auf das Schulklo und heule. Sängerin werden, ist mein absoluter Traum. Mein Ziel, das ich mir fest vorgenommen habe. Bin ich wirklich zu dick dafür? Kurz denke ich an die Sängerinnen, die ich toll finde. Alle sind sehr dünn. Sehr schön. Die Jungs haben wohl recht. Wie peinlich, dass ich überhaupt auf die Idee gekommen bin, dass der Beruf zu mir passen könnte! Aus Scham schließe ich mich im Klo ein und warte, bis die Stunde vorbei ist.
Auf dem Heimweg hänseln mich Gregor und die anderen. Wie immer. Jetzt tut es aber mehr weh, weil sie auf meinem Traum herumtrampeln. Hätte ich doch nur die Klappe gehalten! Blöde, fette Scarlett! Einfach still sein. Dann tut dir niemand weh.
Aus der Ferne sehe ich, wie Robin uns entgegenkommt. Ich will im Erdboden versinken. Mein großer Bruder holt mich ab und zu von der Schule ab. Aber heute will ich das nicht. Er soll nicht sehen, wie unbeliebt ich bin. Erst winkt er. Als er sieht, wie mich die anderen auslachen und schubsen, wird er böse und rennt auf uns zu. Mein großer Bruder ist drei Jahre älter als ich und sehr dünn, schmächtig. Aber weil er recht groß ist, hat er die Jungs schnell verscheucht.
„Lasst meine Schwester in Ruhe, ihr Blödmänner!“
„Pfoten weg, du Arsch!“, mault Gregor und haut Robin. Robin schlägt zurück. Blöderweise sind wir nun direkt vor Frederiks Haus. Er hat einen großen Bruder. Der kann Karate. Plötzlich steht auch er da und schlägt meinen Bruder, bis er auf dem Boden liegt.
„Frechheit“, sagt Mama später und rührt im Kochtopf. „Unerzogene Bengel. Ich gehe nachher direkt hin und stelle die Mutter zur Rede.“
„Nein, bitte nicht“, flüstert Robin. Wir sitzen am Esstisch. Robin kühlt seine aufgeplatzte Lippe mit einem feuchten Tuch.
„Würde ich auch nicht“, sagt Papa. Es ist selten, dass er beim Mittagessen auch da ist. Heute hat er Spätschicht. Es freut mich, dass ich ihn sehen kann. „Der Junge ist selbst schuld“, meint Papa. Er blättert in seiner Zeitung. „Hätte sich wehren können.“
Robins Augen sind glasig, seine Wangen rot. „Genau“, sagt er. „Ich war nicht stark genug.“
„So ein Mist!“, kreischt Mama. „Die Soße ist angebrannt.“
„War ja klar“, murrt Papa.
„Was soll das denn heißen?“
„Wann ist dir je eine Soße nicht angebrannt?“
„Koch doch einfach selbst.“
„Was muss ich noch alles machen?“
„Bitte?“
„Für irgendwas wirst du wohl auch noch gut sein.“
Mama und Papa schreien sich an. Ich mag das nicht. In letzter Zeit passiert das häufiger. Meistens gehe ich dazwischen, Robin aber gibt mir heute unter dem Tisch einen Tritt und schüttelt den Kopf. Warum soll ich still sein? Ist Schweigen besser als Reden? Jetzt fallen ganz böse Wörter und ich muss weinen.
„Schau, was du angerichtet hast!“, schreit Papa. „Jetzt heult die schon wieder.“
„Ich? Sie heult deinetwegen!“
„Wenn du einmal was auf die Reihe kriegen würdest, wäre das nicht passiert.“
Robin nimmt den Löffel, der neben seinem Teller liegt, reibt die Innenfläche und drückt ihn auf seine Nase. Er muss den Kopf etwas heben, aber er kann ihn tatsächlich balancieren. Es sieht lustig aus. Ich lache. Er auch. Dann fällt der Löffel runter. Ich will das auch können! Robin und ich spielen weiter mit den Löffeln. Dass Mama und Papa nicht mehr streiten, bekomme ich gar nicht mit. Irgendwann sitzen auch sie am Platz. Unsere Teller sind gefüllt: Spaghetti und Tomatensoße. Mein Lieblingsessen! Papas Teller ist sehr voll. Fast läuft die Soße über. Mama hat nur ganz wenig auf dem Teller. Während wir essen, steht sie oft auf, wäscht Geschirr, geht aufs Klo oder schreibt Einkaufslisten.
Das Essen schmeckt komisch. Überhaupt nicht angebrannt. Aber traurig. Mein Bauch tut weh. Bin ich satt?
„Esst, damit ihr groß und stark werdet“, sagt Papa. „Und euch wehren könnt gegen andere.“ Robin bekommt eine zweite Portion. Ich auch. Papa isst schon den dritten Teller. Ich esse weiter, bis die letzte Nudel weg ist. Mein Bauch tut sehr weh. Mir ist schlecht.
„Vollgefressen“, lacht Papa, reibt sich über den Bauch und rülpst. „Soße war noch im Rahmen“, sagt er zu Mama. „Man konnte sie essen.“
Читать дальше