„Wie viel ist denn dieser Rollschrank mit den Computern wert?“, will ich noch wissen, während mich Herr Merkendorf nach draußen begleitet.
„Zwanzigtausend mal mindestens“, antwortet er. „Wenn nicht sogar dreißigtausend.“
„Euro“, ergänze ich.
„Nein, Gummibärchen.“ Wir sind an der Tür zum Schulhof angekommen. Sehr lustig, der Hausmeister. Na gut, vielleicht war meine Bemerkung mit den Euro etwas dumm. Natürlich zwanzigtausend Euro. Was sonst?
Langsam schlendere ich über den Pausenhof. Es gibt also zwei Technikräume. Einer mit den Beamern und den Mikrofonen und einer mit den 30 Notebooks. Der Einbrecher ist durch das Fenster in den ersten Technikraum eingebrochen, hat die Tür zum Flur aufgebrochen und wollte in den zweiten Technikraum eindringen. Das ist ihm aber nicht gelungen. Also hat er mitgenommen, was er im ersten finden konnte, und ist damit abgehauen. Hm.
Im hinteren Bereich des Schulhofs seh ich Dominik Kopinska. Er hat die Hände tief in seinen Hosentaschen vergraben und lehnt an der Hauswand. Neben ihm stehen noch zwei andere Jugendliche aus der neunten Klasse. Die Idee von Lasse, dass Dominik der Einbrecher war, ist natürlich Quatsch. Andererseits: Wenn Dominik wirklich vorgehabt hat, die Notebooks zu klauen, dann hat er mit einer viel größeren Beute gerechnet als nur mit fünftausend Euro aus dem ersten Raum. Und dann könnte er sogar recht haben mit seiner Ankündigung, dass er bald sehr viel Geld besitzen würde. Ich schlendere mit meinem Pausenbrot ganz gemütlich und unauffällig in die Nähe der drei großen Jungs. Ich schau gar nicht zu ihnen. Ich tu so, als wäre ich völlig in Gedanken vertieft und dreh den Jungen meinen Rücken zu. Aber ich versuche so angestrengt wie möglich, etwas von dem zu verstehen, was die drei da reden. Sie sprechen aber sehr leise und ich trau mich nicht näher ran.
„Beim nächsten Mal pass ich besser auf und dann mach ich den fertig“, verstehe ich endlich was. Das war einer der Freunde, dessen Namen ich nicht weiß.
„Das schaffst du sowieso nicht“, lacht der andere Fremde.
Ich bleibe stehen und strenge mich noch mehr an. Jetzt wird es interessant.
„Heut Abend um acht. Bist du dabei?“
„Klar. Wie immer. Ist Antonio auch dabei?“
„Keine Ahnung. Glaub schon. War gestern zumindest auch da.“
„Diesmal schlag ich ihn.“
„Kannste vergessen.“ Freches Lachen.
„Was ist mit dir, Domme?“
Domme? Sicher ist Dominik gemeint. Zumindest ist er es jetzt, der antwortet: „Nee, glaub nicht. Keine Zeit.“
„Na, komm schon“, sagt einer der beiden anderen. „Mit dir macht es viel mehr Spaß.“
„Keine Zeit“, wiederholt Dominik.
„Ich frag noch Pascal“, sagt der erste, „der ist so gut wie unbesiegbar.“
„Das stimmt“, lacht der zweite. „Der überlebt immer und alle anderen sterben.“
Ein Stich fährt durch meinen Bauch. Was hab ich da gerade gehört? Pascal überlebt und die anderen sterben? Hab ich es hier mit Mördern zu tun? Obwohl ich die ganze Zeit vor mich auf den Boden gestarrt habe, schau ich jetzt hoch und dreh mich zu den drei Jungen um.
„Ja“, sagt der erste wieder. „Beim letzten Mal war ich auch sofort tot und Pascal hatte noch drei Leben!“
Dominik, der in der Mitte der Jungen steht, schaut mich an. „Was willst du?“, fragt er barsch.
„Nichts“, stammle ich und verschluck mich sofort an meinem Pausenbrot. Ich huste wie ein Doofer und geh weiter. Ich dreh mich noch mal um und sehe, dass die Jungen weiterreden, ohne auf mich zu achten. Der eine war tot und der andere hatte noch drei Leben! Jetzt ist mir alles klar: Die haben über ein Computerspiel geredet. Da überlebt man schon mal und alle anderen sterben. Wenn man gut ist. Oh Mann. Ich Blödmann. Zum Glück hab ich das letzte noch mitbekommen, sonst hätte ich echt gedacht, ich bin Mördern auf der Spur.
Zu Hause erzählt mir Lasse von seinen Ermittlungen. Er ist am Vormittag ganz mutig auf den großen Drittklässler Leon zugegangen und hat gefragt: „Na, woher hat dein Bruder denn so viel Geld, dass deine Eltern bald nicht mehr arbeiten müssen?“ Da hat Leon geantwortet: „Geht dich einen Dreck an!“ Und das war für Lasse Beweis genug, dass der Kerl was zu verheimlichen hat.
Ich finde die Spur zu Leon und Dominik völlig daneben. Aber Lasse redet stundenlang auf mich ein, ich soll wenigstens mal kurz mit dem Fahrrad durch die Straße fahren, in der Leon wohnt. Er nervt mich so lange damit, bis ich endlich zustimme. Aber wirklich nur ganz kurz! Die Kinder aus den großen Mietshäusern in der Ruppertstraße spielen fast alle den ganzen Tag draußen. Wäre doch gelacht, wenn wir Leon da nicht antreffen würden.
Am späten Nachmittag fahren wir los. Ich mit meinem coolen Mountainbike, Lasse mit seinem kleinen Fahrrädchen, auf dem ich damals noch Fahrradfahren gelernt habe. Ohne Gangschaltung. Viel zu klein. Wenn Lasse darauf fährt, stößt er bei jedem Treten beinahe mit den Knien gegen die Ellenbogen. Aber Lasse tritt wie verrückt. Und so kommt er ganz gut hinter mir her.
In der Ruppertstraße halten sich Kinder jeden Alters auf. Da spielen Kindergartenkinder in einem dreckigen Sandkasten und bewerfen sich mit Sand und Steinchen. Grundschulkinder kicken einen Ball über die Straße. Viele fahren Fahrrad, Skateboard oder Inliner. Unter einem Streetball-Korb spielen einige Jugendliche, die älter sind als ich. Hier und da sitzen Kinder auf der Bordsteinkante und schaben mit einem Stöckchen im Dreck oder füllen Steinchen in leere Plastikflaschen. Auf einem Ascheplatz steht ein Fußballtor, aber die Fußballspieler lassen das Tor ungenutzt, denn sie treten ihren Ball ja lieber die Straße rauf und runter. In dem leeren Tor steht Samir und führt Selbstgespräche. Als wir an ihm vorbeifahren, erkennt er mich und winkt mir zu: „Ah! Hallo!“
„Hallo“, rufe ich zurück.
„Fußball?“, fragt er und zeigt auf das leere Tor.
„Keine Zeit“, antworte ich und radle weiter.
Kurz darauf sehen wir Leon, der auf der Treppe vor einem der großen Mietshäuser sitzt und irgendwelche Karten vor sich hin sortiert.
„Da ist er“, flüstert Lasse mir zu und zeigt viel zu auffällig auf ihn.
„Ich weiß“, sage ich und fühle mich plötzlich unwohl. Ich weiß gar nicht, was ich ihn fragen soll. Ich höre auf zu treten und lasse das Fahrrad langsam in seine Richtung ausrollen. Leon bemerkt uns und rafft die Karten zusammen, als wären wir berühmte Karten-Diebe. Bevor er sie in seine Jackentasche steckt, erkenne ich, dass das diese Fußball-Bundesliga-Sammelkarten sind, die man an jedem Kiosk kaufen kann. Meiner Meinung nach völlig überteuert. Aber Lasse hat sich neulich selbst mal von seinem Taschengeld so ein Päckchen gekauft.
„Hallo“, sage ich vorsichtig.
„Hallo“, sagt Leon und es klingt sehr misstrauisch.
„Wie geht’s?“, frage ich und gebe mir Mühe, cool und locker zu wirken.
„Gut.“
Lasse zeigt auf mich und sagt zu Leon: „Das ist mein großer Bruder. Der kann dich übern Zaun schmeißen!“
„Hör auf damit, Lasse!“, brumme ich ihm zu.
„Na und?“, blökt Leon. „Dann hol ich meinen Bruder. Der schmeißt euch beide übern Zaun!“
„Ich will gar niemanden über den Zaun werfen“, versuche ich ihn zu beruhigen.
„Dann haut ab“, kommt es von Leon.
„Ich dachte … ich wollte …“ Ich komm mir ziemlich blöd vor. „Wir wollten dich was fragen.“
Leon steht auf und schaut mich streng an. Aber er sagt nichts mehr.
„Vielleicht kannst du uns helfen.“
„Wobei?“
Ich steige von meinem Rad und schiebe es langsam bis zur Treppe, auf der er steht. „Also … vielleicht hast du auch schon von dem Einbruch an unserer Schule gehört …“
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