„Nein, Lasse“, sage ich so geduldig wie möglich. „Das war ein Witz von Mama. Einbruch – Einbruch. Das ist ein Wortspiel.“
Lasse lacht: „Ein Teekesselchen also? Wie Birne und Birne?“
„Ja genau.“
„Oder wie Schloss und Schloss?“
„Richtig.“
„Oder wie …“
„Ja, Lasse, wie alle anderen Teekesselchen auch.“
„Lustig!“ Im weiteren Verlauf des Schulwegs zählt er etwa fünfzig weitere Teekesselchen auf und wünscht sich dabei immerzu, dass sie das so bald wie möglich mal in der Schule spielen. Dann kann er nämlich sein neuestes Teekesselchen „Einbruch – Einbruch“ sofort zum Besten geben.
Wenn wir beide morgens zur Schule gehen, können wir einen Großteil der Strecke gemeinsam zurücklegen. Die Grundschule von Lasse und meine Gesamtschule befinden sich in derselben Straße. Zwischen den beiden Schulen liegen eine Wiese und die Turnhalle. Also bringe ich Lasse zuerst in seine Schule und gehe dann ohne ihn bis zu meiner Schule. Unterwegs kommen an fast jeder Kreuzung Kinder dazu. Seit Julian Prinz aus der Kasernenstraße zu uns gestoßen ist, zählt Lasse seine Teekesselchen nur noch leise für sich auf und kichert wie blöde, wenn ihm wieder ein originelles eingefallen ist.
Bald darauf kommt Maria Höflich aus der Nachbarklasse dazu und fängt schon an zu plappern, bevor sie uns überhaupt richtig sieht. Sie hat heute Morgen schon davon gehört, dass in der vergangenen Nacht in unserer Schule eingebrochen worden ist. Und jetzt erzählt sie haarklein, was sie alles erfahren hat: „Ich weiß es von Elisabeth und die weiß es von Hanna und Hanna weiß es von ihrem Vater und der kennt ja den Hausmeister total gut, weil die immer zusammen kegeln gehen! Der Hausmeister hat das schon heute Morgen um sechs Uhr bemerkt, der geht ja immer total früh in die Schule. Und dann hat er gesehen, dass das Fenster zum Technikraum hinter der Schule kaputt war und dann hat er gesehen, dass innen lauter Sachen fehlen: zwei Beamer und ein Mischpult und noch mehr Sachen, das hab ich mir nicht alles behalten. Aber dann hat er auf der Straße Hannas Papa getroffen, der gerade auf dem Weg zur Arbeit war, und hat es ihm erzählt. Und der hat dann seine Frau angerufen und es ihr erzählt und die hat es Hanna erzählt und die hat es Elisabeth erzählt und die hat es mir erzählt.“ Maria hat kein einziges Mal Luft geholt, während sie das alles berichtet hat. Aber jetzt atmet sie einmal tief ein und beendet ihren Vortrag: „Ich weiß es sozusagen aus erster Hand, nämlich vom Hausmeister persönlich … also … fast aus erster Hand. Vom Freund des Hausmeisters … und ähm … von dessen Tochter und von deren Freundin. Aber ich finde, das ist schon sehr nah dran.“
Maria erzählt viel, wenn der Tag lang ist. Und meistens interessiert mich das gar nicht. Aber das mit dem Einbruch ist zur Abwechslung mal etwas, das ich wirklich interessant finde. Wenn ich groß bin, will ich nämlich auch Polizist werden. Wie mein Papa. Das weiß ich jetzt schon. Aber nicht so einer, der immer nur zu den Leuten hinfährt, sich den Einbruch erzählen lässt und dann den Einbrecher doch nicht fängt. Nein. Wenn ich mal Polizist bin, dann haben die Einbrecher nichts mehr zu lachen. Ich werde wirklich jeden fangen und jeden Fall aufklären. Ich kann sehr gut beobachten, ich kann verfolgen, ich kann messerscharf kombinieren. Ich bin Agent Benjamin Baumann. Schrecken aller Verbrecher.
Lasse ist begeistert von Marias Bericht: „Was? Ein Einbruch in eurer Schule? Boah, das ist ja cool!“ Er schlägt mir an den Arm: „Ben, das ist ein neuer Fall für uns! Wir sind doch Agenten! Wir fangen die Diebe!“
O weh. Hab ich gesagt, ich bin der Schrecken aller Verbrecher? Dann sollte ich noch hinzufügen, dass ich die Verbrecher natürlich am allerbesten alleine fange. Mein Bruder Lasse ist nämlich keineswegs der Schrecken aller Verbrecher. Die größte Gefahr an ihm ist höchstens, dass sich die Gangster totlachen, wenn sie es mit ihm zu tun haben. Aber sehr hilfreich bei den Ermittlungen ist Lasse nicht. Wirklich nicht.
Lasse wendet sich an Maria: „Weißt du, Maria, Ben und ich werden mal Polizisten, wenn wir groß sind. Und wir sind auch jetzt schon die besten Kriminalfall-Löser. Gemeinsam als Team sind wir unschlagbar.“ Jetzt schaut er wieder mich an und schlägt mir an den Arm: „Hab ich recht, Ben?“
Ich rolle mit den Augen und sage lieber nichts. Wenn Lasse irgendwann mal Polizist wird, dann haben die Verbrecher dieser Welt ja doch wieder eine Chance. Ich kann mir genau vorstellen, wie das dann ablaufen wird: Ich fange sie alle und bringe sie ins Gefängnis. Und Lasse lässt sie vor lauter Schusseligkeit wieder frei.
Aber bis jetzt sind wir ja noch keine Polizisten. Ich bin elf Jahre alt und gehe in die fünfte Klasse der Gesamtschule unserer Stadt. Lasse ist sechs Jahre alt und ist im ersten Schuljahr. Da ist die Welt noch in Ordnung. Die Erstklässler malen den ganzen Tag Bilder oder rechnen einen Apfel plus einen Apfel gleich zwei Äpfel. Wahnsinn. Lasse hat keine Ahnung, was da an komplizierten Unterrichtsfächern noch auf ihn zukommt, wenn er mal im fünften Schuljahr ist. Der wird sich noch wundern.
„Und weißt du noch was, Maria“, fährt Lasse fort, „Einbruch ist ein Teekesselchen. Es gibt nicht nur den Einbruch, wenn jemand in der Schule einbricht, sondern auch den Einbruch, wenn Ben in seinem Bett einbricht.“
Maria lächelt höflich, aber sie scheint diese Erkenntnis nicht ganz so spannend zu finden.
Julian Prinz, der schon eine ganze Weile mit uns die Straße entlang schlurft, wundert sich über den Vorfall an der Schule: „Wieso bricht der Hausmeister denn in die Schule ein? Hat der keinen Schlüssel?“
Maria seufzt laut auf: „Hast du nicht zugehört, Julian? Der Hausmeister ist nicht eingebrochen. Der Hausmeister hat den Einbruch entdeckt!“
„Und wer ist dann eingebrochen?“, fragt Julian.
„Das weiß man natürlich nicht. Darum muss sich jetzt die Polizei kümmern.“ Sie zwinkert mir zu. „Was, Ben?“
„Richtig“, stimme ich zu.
Lasse hebt seinen Zeigefinger: „Oder die Superagenten Ben und Lasse!“ Er schlägt mir schon wieder gegen den Arm. „Was, Ben?“
„Ist klar, Lasse“, sage ich etwas genervt. „Wenn du eine heiße Spur hast, dann lass es mich wissen. Wie ich dich kenne, hast du den Einbrecher in null Komma nichts verhaftet.“
„Klar, hab ich auch!“, quakt Lasse. „Aber nicht ohne deine Hilfe! Du bist es doch, der so schlau und mutig ist wie ein echter Polizist!“
Maria kichert. Julian fragt: „Wieso seid ihr denn Agenten? Die gibt’s doch nur im Fernsehen.“
„Nein, die gibt es auch in echt“, antwortet Lasse. „Mein Bruder und ich sind die mutigsten Agenten, die du dir vorstellen kannst. Außer Papa natürlich, der ist noch mutiger. Aber der ist kein Agent, sondern Polizist. Verstehst du den Unterschied?“
„Nein.“
„Ben hat mir eine Agenten-Anstecknadel geschenkt. Die ist der Beweis dafür, dass wir echte Agenten sind!“ Lasse zieht den Reißverschluss seiner Jacke auf. An seinem Pullover steckt der peinliche Anstecker, den ich ihm mal zu Weihnachten geschenkt habe: eine aus Goldfolie und Glitzersteinchen gebastelte Plakette mit der Aufschrift: „Agent Lasse Baumann“. Hab ich in fünf Minuten dahingekritzelt und zusammengeklebt, aber Lasse trägt das Ding mit so viel Stolz, als hätte es ihm der Bundespräsident höchstpersönlich überreicht.
„Pack das weg, Lasse“, flüstere ich ihm zu. Das Teil sieht echt peinlich aus.
Julian ist offensichtlich beeindruckt: „Klasse“, findet er.
Lasse nickt. „Klasse ist übrigens auch ein Teekesselchen. Es gibt die Klasse in der Schule, zum Beispiel Klasse 1b. Und es gibt klasse, wenn was klasse ist.“ Er lacht. „Klasse, was?“
„Ganz klasse, Lasse“, sage ich und wundere mich, wie schnell Lasse mit seinen Gedanken von einem Thema zum anderen springen kann. Ich bin in Gedanken noch ganz bei dem Einbruch. Der interessiert mich wirklich. Ob ich diesen Fall lösen kann? Aber möchte ich Lasse wirklich dabei haben? Vielleicht kann ich es ihm noch ausreden. Immerhin sind solche Sachen ja wirklich gefährlich und nichts für Erstklässler.
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