Vielleicht will er ihr nur immer weiter Briefe schreiben; will, dass sie ihm immer wieder schreibt …
Was eigentlich in dem Brief stand, den Sophie am Ende doch stempelte und in den Schlitz des blauen CTP-Kastens steckte, entzieht sich des Zugriffs. Als eine Woche später Ivans Antwort kam, stieg sie gerade die schäbige Treppe hinauf, mit Flaschen von limonade , Vichy, vin ordinaire , baguettes beladen, den Brief oben auf der vollgepackten Einkaufstüte hielt sie mit ihrem Kinn eingeklemmt. Bis zum vierten Treppenabsatz widerstand sie der Versuchung, ihre Last abzustellen, um den Brief zu lesen, dann gab sie nach. Mit der nächsten Post ein weiterer Brief von ihm, in dem er schrieb: »… vergiss, was ich dir in einem Anfall von Wahnsinn in meinem ersten Brief geschrieben habe …«, der aber im Wesentlichen dieselbe Aussage enthielt – sie riss ihn auf ihrem Weg aus dem Haus auf und las ihn, während sie den Boulevard hinuntereilte. Über den ersten Brief musste sie weinen. Über den zweiten lachen.
Welchen Sinn hatte das Leben für Sophie auf dem Flug nach New York, wo sie zur Regelung ihrer Angelegenheiten hinflog, um sich in Paris richtig einrichten zu können? Keinen.
Welchen Sinn hatte das Leben für Sophie auf dem Flug von New York, nachdem sie ihre glückliche Liebesaffäre gehabt hatte? Keinen.
Welchen Sinn hatte das Leben für Sophie, als sie die Maschine in Orly bestieg, um zu ihrem Liebhaber zurückzufliegen? Welchen Sinn würde ihr Leben nach ihrer Ankunft dort für sie haben, nach einer Woche, einem Jahr, nach zehn Jahren –?
Über den Sinn seines Lebens nachzudenken und zu grübeln hatte Sophie immer für eine unnütze und müßige Beschäftigung gehalten. Schlimmer als unnütz, es war eindeutig gesundheitsschädlich. Kurzum, eine schlechte Angewohnheit. Und wie die meisten schlechten Angewohnheiten wurde auch diese einem von anderen Leuten aufgedrängt und von ihnen gefordert, von ihren Urteilen, die in ihren Fragen oder Behauptungen enthalten waren. Mit der Sinnlosigkeit der Urteile anderer Leute konfrontiert, zog Sophie natürlich ihre eigene Form von Sinnlosigkeit vor. Mit der Zeit begriff sie, dass sie umgänglicher werden musste, wenn sie Auseinandersetzungen vermeiden wollte. Schweigen allein bewirkte noch keine Besänftigung, auch Nicken und Lächeln reichten nicht aus.
Leute wollten immer eine Aussage haben. Meistens sprach Ezra für sie. Sie fand es ganz in Ordnung, wenn er in einer Gesellschaft ihre Meinung vertrat. Sie selbst würde sich nie so ausdrücken, auf keinen Fall so geschickt und überzeugend, wie Ezra es tat; sie könnte es gar nicht, sie konnte diese Art von Aussage überhaupt nicht machen. Die Aussagen, die Ezra für sie oder über sie machte, setzte er aus ihren Gesprächen, ihren Bemerkungen über Bücher, die er ihr zu lesen gegeben hatte, zusammen. Die daraus resultierende Aussage war weder richtig, noch war sie falsch; sie war einfach Ezras Erfindung für ein Zimmer voll Leute, die sonst das Schweigen seiner Frau als beleidigend empfunden hätten.
Es war seltsam, ein wenig peinlich, wenn Ezra in ihrem Beisein von ihr oder über sie sprach, als ob sie in einem Trancezustand oder abwesend sei. Gewiss, sie hörte meistens nicht zu – war sich nicht einmal bewusst, dass sie nicht zuhörte. Sie vergaß jedoch nie, dass sie als Ezras Frau an der Gesellschaft teilnahm; dass sie unter diesem Deckmantel überall und nirgends sein konnte, irgendwer und niemand. Vielleicht genoss sie dies zu sehr, wie Ezra ihr vorwarf, wenn sie allein waren. Er beschwerte sich, dass sie ihn die ganze Unterhaltung allein bestreiten ließ, sie, die das ganze Gequassel für so beschissen hielt, ließ ihn armen Deppen –! Wie einfach doch alles für sie sei, wie überaus günstig für sie, einen so getreuen Diener und Dolmetscher zu haben. Was wäre das delphische Orakel ohne einen Deuter? Ein stinkendes Loch . Während Ezra sich selbst und sie in diesen Rollen parodierte, mochte sich Sophie gefragt haben, wo sie denn nun wirklich stand.
Sogar dann, wenn Sophie Ezra nicht ausstehen konnte, liebte sie die Ehe. Sie war ein vielschichtiges Gewand, an dessen Schwere sie Gefallen fand. Es zu tragen, erleichterte, vereinfachte die Situation, wenn man ein volles Zimmer betrat, es rechtfertigte ihre Anwesenheit im Raum. Es war immer da, ein gebrauchsfertiges Kleid für öffentliche Anlässe. Ezras Frau; das war die Antwort für jeden, der sie kennenlernen wollte. Sie war die Frau, die Ezra Blind geheiratet hatte. Das hatte Gewicht und Kraft: wie ein undurchlässiger Mantel wehrte es dem unvermeidlichen Schwarm von Neugierigen, Geschwätzigen, Streitsüchtigen, Ausfragenden. Das Gewand diente dazu, die verbindlichen Auszeichnungen und Etikette entgegenzunehmen, es verschluckte die unvermeidlichen Flecken, sein Stoff ließ sich gefälligst falten und dehnen. Es rettete ihr die eigene Haut. Wie sollte man ein so vielseitig verwendbares Kleidungsstück nicht schätzen?
Was Ezra anging, so witzelte und jammerte er zwar über seine Frau, aber er wusste sehr wohl, dass er einen Schatz besaß. Sie war anders als andere Frauen. Er erzählte ihr von anderen Frauen, wenn sie im Bett lagen, Frauen, die er vor ihr gekannt hatte oder von denen er gerade kam – denn er hatte gelogen, er war gar nicht in der Bibliothek gewesen oder mit Rabbi X spazieren gegangen; im Bett mit ihr konnte er ihr ja die Wahrheit sagen, weil sie die einzige Frau war, die er liebte. »Ich weiß nicht, warum«, sagte er und gab eine lange Reihe von Gründen von sich, warum er wisse, dass er sie lieben müsste, obwohl es nicht das Natürliche für ihn sei. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich dich liebe«, sagte er, weil sie nicht so sei wie andere Frauen, die er gekannt oder begehrt habe. Sie sei schwierig und unmöglich, aber auch nicht, wie andere Frauen das wären, die nörgelten, klammerten, forderten – außer wenn sie in Verzweiflung geriete, dann wisse er wenigstens, wie er sie behandeln müsse: sie verspotten, verprügeln, sie bumsen, sie umwerben, beschimpfen, trösten; dann sei sie genau wie andere Frauen auch. Aber nicht genug, beschwerte sich Ezra. Er erzählte ihr, was andere Frauen aus Verzweiflung täten, wie tief sie sinken, in welche Abgründe von Obszönität und Perversion; wie gern sie sich demütigen, herabwürdigen ließen, darum bettelten, dass man sie zertrample. Sie sei im Grunde leider nicht masochistisch veranlagt, seufzte er. Bei ihr wären Prügel nur rein zweckmäßig, kein erotisches Erlebnis wie bei einer anderen Frau, die er kenne, die auf allen vieren herumkröche und ihn anwinsele, dass er sie auspeitsche, die sogar seine Scheiße fressen würde – jawohl, sie bettelte ihn darum an. Sophie war nicht sonderlich beeindruckt. Sie brachte es nicht einmal fertig, richtig eifersüchtig oder beleidigt zu sein. Ihr Vater hatte ihr schon als Mädchen erklärt, warum Männer zu ihrer Lust die Obszönität brauchten, warum es nicht ganz einfach sein konnte. Und das war das jetzt. Und wenn sie es immer noch ganz einfach haben wollte, meinte Ezra, so käme das daher, dass sie ein Kind sei und von unverbesserlicher Romantik. Für sie war es eine persönliche Geschmacksfrage, dass ihr Ezras Praktiken missfielen; sie weigerte sich aus Prinzip, ihn nach den Regeln der Gesellschaft zu beurteilen. Sie hatte nie eine bürgerliche Ehe haben wollen, und wenn sie je der deprimierende Gedanke befiel, in die Falle einer bürgerlichen Ehe geraten zu sein, dann versicherte ihr Ezras Verhalten, dass dem doch nicht so sei. Was für eine Art von Ehe wünschte sich Sophie? In erster Linie hatte sie überhaupt nicht heiraten wollen. Ezra hatte heiraten wollen. Ezra war zutiefst schockiert gewesen, als sie auf seinen ersten Heiratsantrag geantwortet hatte, sie könnten doch in wilder Ehe miteinander leben; seine Reaktion hatte sie überrascht, amüsiert und schließlich gerührt, denn er hatte sich als Freigeist und Kosmopolit vorgestellt, außerdem lagen sie gerade miteinander im Bett; Ezra, noch immer durch ihre Frivolität gekränkt, behauptete, er habe sie nur defloriert, weil er ganz sicher angenommen habe, dass sie heiraten würden. Warum er so darauf bestand, konnte er selbst nicht erklären, das faszinierte sie daran. Ezra glaubte auch nicht an die bürgerliche Ehe, auch nicht an die jüdisch-orthodoxe. War es der Jude in ihm? Der Mann in ihm? Etwas, was sie als Frau nie würde verstehen können? Sie war sich noch unschlüssig, ob sie Ezra überhaupt mochte oder nicht; vorrangig beschäftigte sie sein feierliches Beharren auf einer Ehe, und als sie ihr Jawort gab, galt es eigentlich der Ehe selbst, ohne dass sie über ihre Gefühle für Ezra mit sich ins Reine gekommen wäre. Als sie dann verheiratet war, war sie froh, dass es so gekommen war; wer weiß, ob sie sich je für Ezra hätte entscheiden können. Und wie unwichtig das war! Erst nach der Eheschließung wurde ihr so richtig klar, dass es die einzig natürliche und respektable Lebensform war. Das Zusammenleben zweier Menschen, Mann und Frau, hatte eine naturgegebene Richtigkeit; diesen Sachverhalt ein für alle Mal festgesetzt und geregelt zu haben, um nicht seine ganze Zeit damit verbringen zu müssen, weiter Umschau zu halten oder endlos seine Gefühle zu zerpflücken – das war der große Vorteil der Ehe. So kam es, dass Sophie, die im Prinzip noch immer gegen die Ehe war, sie in der Praxis durchaus genoss; sie genoss die fraglose Zweisamkeit, die unabhängig von Launen, Zu- oder Abneigungen fortbestand, die keine Vernunftsgründe brauchte und auch nicht von Vernunftsgründen zerstört werden konnte; Ezras Fremdgehen verblüffte sie mehr, als dass es sie verletzte – sein Bedürfnis nach Abwechslung, an dem, wie sie wusste, nicht ihr Ungenügen schuld war, ebensowenig wie ihrer Treue etwa ein tiefes Gefühl für Ezra zugrunde lag – sie waren einfach verschieden.
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