… Kaffee und Dessert woanders einnehmen? Nein, sie will lieber den Wein austrinken, er ist wunderbar. Sie sollte sich den Namen merken – nein, besser nicht. Es ist herrlich, gerade einmal nicht Sophie Blind sein zu müssen. Es ist schon herrlich, im Auto diese andere Person zu sein. Warum sie lächelt, will er wissen. Ihre Antwort ein erneutes Lächeln, aus dem ein Kuss wird. Sie denkt daran, was ihre Tante zu ihr sagte, als sie zwölf Jahre alt war: du musst immer darauf achten, dass du saubere Unterwäsche anhast, auch wenn du nur über die Straße gehen willst; du weißt nie, ob du nicht von einem Auto überfahren wirst und die Leute dann deine Unterwäsche sehen. Während sie an einer Kreuzung stehen, hört sie ihn von der Garage reden; sie ist drei Häuserblocks vom Hotel entfernt, macht es ihr etwas aus, zu Fuß zu gehen? Er könnte den Portier bitten, aber er will seinen Wagen nicht n’importe qui überlassen. Es macht ihr nichts aus zu laufen; seine Zärtlichkeit für sein Auto findet sie ganz verständlich, es ist ein so heikles, empfindliches, kraftvolles Tier – sie ist auch schon ganz darin verliebt. Sie reden von Autos. Ihre Begeisterung für Maschinen, er findet das außergewöhnlich, Frauen interessieren sich meistens nicht für – natürlich, sie hat bisher keine Gelegenheit gehabt. Sie plappert von Schreibmaschinen, Plattenspielern, einem Motorroller, den sie einmal gehabt hat. Wie lange diese Euphorie wohl anhalten wird?, fragt sie sich. Ob sie wohl damit durchkommt? Im Fahrstuhl trübt der Gedanke, eine Hure zu sein, ihre Euphorie ein wenig (vielleicht durch die blöde Situation bedingt: in diesem aufsteigenden Sarg mit ihm eingesperrt zu sein, einer beliebigen Person, die ihr nichts bedeutet); er stört aber keineswegs ihre Leichtigkeit, ändert nur deren Tönung, was ja zum Besten sein könnte. Mit derselben Leichtigkeit geht sie weiter, ohne sich etwas vorzumachen, und er hindert sie nicht in ihrem Vergnügen. Als sie wieder zu sich kommt, empfindet sie keine Reue; die ganze Weinseligkeit im Akt der Lust abgeflossen, abgeleitet, völlig klar im Kopf, allein und auf seltsame Weise geläutert; nach einer Weile dann einfach leer und allmählich unruhig werdend. Sie entsinnt sich anderer Zimmer an anderen Orten … anderer Männer … Es ist hier eigentlich ganz schön, in dieser eleganten Suite des Georg V. Fayenceknöpfe hoch oben in der Wand, so dass man sich beim Duschen nicht zu bücken braucht. Schön, die leichten, weißen Decken – muss sie wirklich in einer halben Stunde schon gehen? Sie könnten sich ein frühes Diner aufs Zimmer servieren lassen. Er erklärt ihr etwas über seine Reise nach London: er würde sie ja einladen, mit ihm zu kommen, nur, dass ihn sein Schwager vom Flughafen abholen wird. Aber sie könnte ja ein, zwei Tage später nachkommen, und sie könnten gemeinsam durch Schottland fahren oder weiterfliegen nach.
Sie hat sich angezogen. Er will wissen, wie er sie wiedersehen kann. Sie lächelt, ihre Hand schon auf dem geschwungenen Messinggriff; vielleicht trifft man sich irgendwann wieder, an einem Nachmittag in den Tuilerien …
Sie schlendert durch die teppichbelegte Hotelhalle (vergewissert sich mit einem flüchtigen Blick auf die Zeitungsschlagzeilen, dass sich inzwischen nichts verändert hat, weder zum Guten noch zum Bösen) und hat ein gutes Gefühl, vor allem nach dem heißen Bad, bis sie am Eingang der Métro entdeckt, dass sie ihre Handschuhe entweder in seinem Auto oder im Hotel vergessen hat. (Im Hinblick auf eine solche Möglichkeit oder vielleicht aus anderen Beweggründen hat Sophie ihre Handtasche mit Hotel-Briefpapier und Seife vollgestopft, ein Fayencegriff vom Bidet – nichts, was dem Mailänder Geschäftsmann gehörte, von dessen Existenz sie nicht völlig überzeugt war.)
Gut für einen Nachmittag – aber zu anstrengend für einen umherstolpernden Millionär, den Leitstern oder auch nur einen exotischen Fisch darzustellen. Hat sie ihre Berufung verfehlt? Sie erinnert sich, wie sie vor zwei Jahren ein sehr reizvolles Angebot ausgeschlagen hat: eine Jacht, eine Villa in Nizza, ein Apartment in Paris. Er wollte, dass sie ihn nach San Francisco begleite. Es dauerte drei Tage, bis sie die Sinnlosigkeit erkannt hatte. Tut es ihr jetzt leid? Aber dann wären andere Dinge nicht geschehen. Und der steinreiche Tyrann, der meistens über die Fünfzig war, auch das war auf Dauer unmöglich – alles, was länger als einen Tag hielt, lief auf Dauer hinaus oder einfach auf vergeudete Zeit. Nein, es war einfach zu mühsam, sich in die Launen eines selbstbewussten, eitlen Mannes zu fügen oder sich dagegen aufzulehnen oder sie zu umgehen – sie wusste genau, dass sie diese Art von Geduld nicht besaß.
Selbstverständlich war ihr schon eingefallen, dass sie einen stolpernden Millionär für ihre eigenen Zwecke gebrauchen könnte, dies war eigentlich ihr Hauptanliegen. Es war gar nicht so sehr eine Frage der Mittel, und schon gar nicht ein moralisches Problem, es ging lediglich darum, dass man, um nach Rom zu kommen, nicht in den Shanghai-Express einsteigen sollte. In dem Fall ginge man besser zu Fuß. Der Shanghai-Express wäre vielleicht sehr vergnüglich, man könnte sich in einen Bahnhofsvorsteher verlieben oder vergessen, dass man je nach Rom hatte reisen wollen; eine Umwälzung des ganzen Lebens könnte stattfinden oder einfach nur ein Abenteuer. Alles war möglich, nur würde sie auf diese Weise nie nach Rom gelangen.
In ihrer Manteltasche ist der Brief nach New York, den sie gestern Nacht geschrieben hat; sie beschließt, ihn nicht abzuschicken.
*
Als sie spät in der Nacht heimkommt, liegt Ezra auf ihrem Bett.
»Was schaust du so schockiert«, sagt er lachend, »ich bin immer noch dein Ehemann.«
»Wo ist der Babysitter?«, fragt sie.
»Ich habe sie bezahlt und nach Hause geschickt. Es freut mich, dass meine Frau ausgeht. Aber du scheinst nicht sehr erfreut, mich zu sehen. Bitte schau doch etwas freundlicher.« Er erhebt sich, und sein Lächeln ist voll zärtlicher Nachsicht. »Hätte ich vielleicht besser draußen warten sollen, bis du zurückkommst? Ich wollte doch die Kinder sehen.«
»Du hättest mich im Voraus benachrichtigen können, dass du kommst.«
»Sophie, ich habe meine Vorlesungstermine extra so verlegt, dass ich dich sehen kann. Morgen Mittag muss ich wieder in London sein, und am nächsten Tag fliege ich nach New York weiter. Es war gar nicht so leicht, das einzurichten, und du bist sehr unfreundlich zu mir.«
»Also gut«, sagt sie, »dann lass uns zur Sache kommen. Ich habe dir vor einem Monat geschrieben.«
»Ja, ich habe deinen Brief bekommen.« Er steht auf und macht eine unglückliche Handbewegung. »Ich wusste nicht, was ich dir antworten sollte, Sophie, ich würde dich nie gegen deinen Willen halten. Aber Scheidung! Sophie, bist du dir eigentlich darüber im Klaren, welche Schwierigkeiten daraus entstehen, berufliche, medizinische, was das in Wirklichkeit für uns heißt? Wie stellst du dir das vor – eine Scheidung –, das ist finanziell undurchführbar, ich kann es mir nicht leisten. Scheidung ist ein Luxus für reiche Leute, arme Leute müssen miteinander auskommen. Ich habe dir gegenüber sehr viel Nachsicht und Milde walten lassen, ich habe dir in vielen Dingen nachgegeben, in zu vielen, aber ich habe dich entschieden zu weit gehen lassen. Es ist klar, dass du dir in den Kopf gesetzt hast, unsere Ehe zu zerstören, eine Zwanghaftigkeit, die schon von Anfang an da war. Nein, ich kann es nicht zulassen, einer muss ja die Verantwortung tragen.«
»Ezra, du hast es versprochen.«
»Unterschreiben? Ausgeschlossen! Was denn für Papiere? Du bist zum Anwalt gegangen? Unglaublich, meine eigene Frau, der ich mich und meine Kinder anvertraut habe? Du bist zu einem Anwalt gegangen. Meine eigene Frau fällt mir in den Rücken.« Er weint, reißt sich aber im nächsten Augenblick zusammen. »Es ist deiner unwürdig«, sagt er voller Abscheu.
Читать дальше