Sagt dir der Name Stepan Bandera etwas? Er war in den 1940er-Jahren der Führer der Aufstandsarmee der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-B). Sein Enkel, der ebenfalls Stepan Bandera heisst, lebt in Kanada. Er ist der Führer der heutigen Allukrainischen Vereinigung Swoboda. Er will sich an unserem Projekt, die Kreuze zu entfernen und den Friedhof zu restaurieren, beteiligen.
Letzte Woche fuhr ich mit Stepan Bandera Junior, einigen wichtigen Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde, Beamten und Politikern der örtlichen und der regionalen Behörden und in Begleitung von Journalisten und Kameraleuten nach Kiev. Seine Exzellenz, der Patriarch der Katholisch Unierten Ostkirchen, gewährte uns eine Audienz. Er beteuerte, die Stahlkreuze im jüdischen Friedhof von Sambir würden ihm grosse Schmerzen in seinem Herzen bereiten. Er würde alles tun, um uns zu helfen, aber die Kreuze müssten bleiben. Durch einen Priester geweiht sind sie in den Stand der Heiligkeit versetzt worden und dürfen auf keinen Fall entfernt werden: Geweiht sind sie der Ewigkeit übergeben.
In allen Zeitungen und Fernsehstationen berichteten sie über unsere aussichtslose Reise.»
Selma Einzig: «Was erzählten deine Eltern?»
Gary Altman: «Nichts. Kein Wort. Holocaust-Überlebende reden nicht.»
Selma Einzig: «Du sagtest, deine Eltern wären 1952 nach Kanada ausgewandert. Sprachen sie über die Zeit davor?»
Gary Altman: «Mein Vater wurde mit seiner Familie und Nachbarn nach Radlivka gebracht. Sie standen am Rand des Massengrabs und warteten auf ihre Hinrichtung. Da schob sich die Hand meiner Grossmutter in die Hand meines Vaters und sie steckte ihm einen Zettel zu. Als die Scharfschützen die ersten Salven abgaben, liess mein Vater sich fallen. Und er überlebte unter den Leichen seiner Familie und nächster Nachbarn. Auf den Zettel hatte meine Grossmutter geschrieben: Du sollst überleben. Das ist mein letzter Wunsch.»
Selma Einzig: «Dann haben sie also doch geredet?»
Gary Altman: «Warum bist du hier?»
Selma Einzig: «Ich? Weshalb fragst du?»
Gary Altman: «Mein Vater starb vor drei Jahren. Meine Mutter weiss nichts von meinen Reisen. Bin ich in Deutschland, in Polen oder in der Ukraine, macht sie sich schreckliche Sorgen. Also schweige ich.»
Selma Einzig: «Findest du in Sambir, was du in den Erzählungen deiner Eltern vermisst hast?»
Gary Altman: «Ja.»
Selma Einzig: «Gibt es dir bekannte Namen auf den Grabsteinen?»
Gary Altman: «Nein. Die meisten sind vergraben. Oder wurden für den Bau einer Bonbonfabrik genutzt. Und die übrigen sind von Schnee und Regen so beschädigt, dass man nichts lesen kann.»
jilal fadel, leiter des instituts für osteuropäische geschichte, 38 jahre, lebt in lemberg:«Es muss sich um Pragmatismus handeln, wenn Gary Altman die Geschichte des reumütigen Stepan Bandera Junior erzählt. Warum auch nicht? Egal welches Motiv der Bandera-Enkel auch hat, er hilft, einen jüdischen Friedhof zu retten. Soll er doch denken und glauben, was er will. Hauptsache, der Friedhof überlebt. Oder Gary Altman verspürt ein Bedürfnis nach Reue der Schuldigen. Nicht nur den Friedhof retten, nein, auch Wiedergutmachung empfangen. Obwohl er eigentlich um den Missbrauch durch den jungen Bandera wissen müsste.
Bandera Junior unterstützt Gary Altman, um der Welt das menschenfreundliche, weltoffene Gesicht der Allukrainischen Vereinigung Swoboda zu zeigen, die ihre Wurzeln in der ehemaligen OUN-B hat.
Im Gegensatz zu Gary Altman wusste Bandera Junior von der Unantastbarkeit der geweihten Kreuze. Die Zeitungen und Fernsehsender haben über seine Fahrt nach Kiev und das vergebliche Bittgesuch an den Patriarchen berichtet.
Seine Überraschung und sein Bedauern, ja seine Tränen sind Teil einer gross angelegten Kampagne, die den Faschisten ein modernes und gemässigtes Image verleihen soll.»
allukrainische vereinigung swoboda:«Einführung ethnischer Zugehörigkeit im Personalausweis; ethnische Quoten in Politik, Wirtschaft und Kultur; Aufnahme des Straftatbestandes ‹anti-ukrainische Tätigkeit› und Einführung entsprechender Strafen; Abschaffung der doppelten Staatsangehörigkeit; Vorzugsbehandlung ukrainischer Rückkehrer; radikaler Einwanderungsstopp für Nichtukrainer; Schaffung des Status einer Atommacht; Beitritt zur Nato; Importbeschränkungen; Verbot von Tabak- und Alkoholwerbung; strafrechtliche Verfolgung der Propagierung von Drogen; Verbot von Abtreibung und Homosexualität; Aufrechterhaltung hierarchischer Geschlechterrollen; Führerkult; wissenschaftlich-rationale Absicherung der faschistischen Ideologie …»
Sami, mon cher
Du und ich im Bett: deine konzentrierten Bewegungen. Ja, das warst du: wenig Aufwand, grosse Lust. Um das zu erreichen, fühltest du jedes Fitzelchen, jede Regung meines Körpers. Aber du spieltest mit mir, spieltest gekonnt mit Erfüllung und Verweigerung. Kurz vor dem Orgasmus liessest du deine Finger von mir, immer wieder, bis ich dich schliesslich völlig ausser Rand und Band packte und geradezu um den Höhepunkt bettelte.
Danach: dein Körper unter meinem. Dein kleiner, weicher Körper. Und ich in deinen Armen. Deinen kräftigen Armen. Du trällertest ein Lied von Fairuz – der Mutter der libanesischen Nation –, es erzählte die Geschichte von Loulou, die den verstörten und von Raubvögeln verfolgten Singvogel in ihrer Hütte aufnahm. Am Morgen, nach einer leidenschaftlichen Liebesnacht, öffnete sie das Fenster und schaute ihm nach, wie er über das weite Meer davonflog.
Ich richtete mich auf und schaute in dein Gesicht, das von der Erinnerung entrückt zu sein schien. Immer wieder dasselbe Lied! Obwohl du auf deiner grundsätzlichen Gleichgültigkeit allen Dingen gegenüber beharrtest.
Du hattest studiert, weil man es erwartete.
Du arbeitest und verdienst Geld, weil man es erwartet.
Du strampelst dich die Karriereleiter hinauf, weil man es erwartet.
Du heiratest diese junge Frau, weil man es erwartet.
Deiner Mutter warst du dankbar, dass sie dich frühmorgens rechtzeitig für den Schulbesuch weckte, obwohl es in der Küche bitterkalt war, deinem Vater warst du für die strafenden Schläge dankbar, wenn du schlechte Noten nach Hause gebracht hattest.
Es käme dir nie in den Sinn, an die Zuneigung oder das Wohlwollen anderer Menschen oder an den guten Zufall, das hilfreiche Zusammenspiel von Ereignissen zu glauben. Deshalb bist du überzeugt davon, die Welt beherrschen zu müssen. Doch am liebsten ziehst du den Kopf ein, machst dich unsichtbar und unhörbar und lässt alles über dich hinwegschwappen – bist froh, überlebt zu haben. Aber siehst du dich übersehen und überhört und das Leben zieht an dir vorüber, bist du beleidigt und gekränkt, ja regelrecht erbost und aggressiv.
Aber die Sprachen liebst du. Und die Gedichte. Die Lieder. Es handle sich nicht um Kitsch, sondern um eine politische Parabel, sagtest du, und ich drückte dir schnell das Kissen auf das Gesicht: «Eine Lüge. Du lügst.»
Diese Loulou und ihr Singvogel waren nicht der Politik geschuldet, nein, sie waren eine Botschaft an mich. Sie verrieten mir, was du insgeheim dachtest. Es gibt kein Morgen … Nur das Heute … Und du gehörst mir … Mir allein …
Doch eines Tages läufst du mir davon. Kugelst wie ein junger Hund durch frisch gefallenen Schnee. Alles an dir springt. Und ich bleibe zurück, damit beschäftigt, frei zu sein, unentwegt frei zu sein, um über die Einsamkeit zu klagen, das Fehlen von Störung, von Reibung, von Zumutung, von Problemen mit anderen: das Fehlen von dir!
Gut. Weiter nicht schlimm! Man lernt neue Lieder. Neuen Kitsch. Neue politische Parabeln. Neue Lügen.
Pauline ihrerseits stellte eine Forderung nach Rückgabe, wollte ihre Lieder wiederhaben, von mir, ich sollte sie aus meinem Körper hervorholen, und du zeigtest mir, wie so etwas geht, wie man das macht. Denn du bist der Mensch, der das geheime Leben meiner Grossmutter, diese versteckten Erinnerungen, die unter all den Mythen und Lügen liegen, verstanden hätte. Du und Pauline: meine Parallelwelten! Aus einer anderen Zeit. Von einem anderen Ort.
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