In den Dörfern haben sie eigene Gärten mit Gemüse und Früchten. Das hilft jedoch nur so lange, wie sie den Garten bestellen können.
Wir pflegen die alten Leute, die oft nicht in der Lage sind, sich selber anzukleiden oder auf die Toilette zu gehen, wir putzen, kochen, waschen, das ist schwere körperliche Arbeit.
Tag für Tag bekommen wir Anrufe. Eine Geburt, eine Bar Mitzwa, eine Hochzeit, eine Bestattung. Wir helfen Eltern, ihre Kinder zu versorgen, jungen Leuten, ihre Studien fortzusetzen, wir organisieren Schabbat, Rosch Haschana, Jom Kippur und Pessach, wir feiern zusammen, wir sind eine grosse Familie und das ist unser Glück.»
Liebe Janika
Sami meldet sich nicht. Beantwortet keine Briefe. Schreibt keine SMS. Geht nicht ans Telefon.
Das Gefühl der Verlassenheit erfasst mich wie ein harmloser Grippevirus. Und könnte so leicht auskuriert werden. Ich müsste mich nur mit Tee ins Bett legen. Und wäre am nächsten Morgen wieder gesund.
Und ja, diese Dialektik der gegenseitigen Störung. Es gibt sie. Aber das besagt rein gar nichts. Und sie soll mich nicht aufhalten. Es ist wie mit den Verletzungen während eines Fussballspiels: Wälze dich im Gras, warte, bis der Schmerz nachlässt, schütte dir Wasser ins Gesicht, steh auf, humple und spiel weiter. (Hab ich von Joel gelernt. Und von Diogo. Sie lieben beide Benfica Lissabon.)
Nicht an Sami denken.
Stattdessen lenke ich mich ab, lass mich von Ludmila herumführen. Treffe die Kellnerin im Restaurant Goldene Rose und die Direktorin der jüdischen Wohlfahrt. Auch habe ich den Leiter des Instituts für osteuropäische Geschichte kennengelernt und einen Anwalt aus Toronto, der den jüdischen Friedhof in Sambir retten will. Ich befrage sie. Und weiss nicht, was daraus werden soll.
Und Paulines Kiste verhält sich wie ein Orakel. Sie enthält Geheimnisse, die ich für meine Zukunft entschlüsseln will. Ich schliesse die Augen, ziehe ein Notat von Pauline raus und laufe los, um jemanden zu befragen.
Ich taste mich wie eine Blinde voran, die auf Geräusche reagiert, die sie noch nicht einordnen kann.
Das Wichtigste ist: nicht denken.
Nicht an Sami denken.
Die Füsse gekreuzt, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen lag er auf dem Sofa in seiner Küche und hielt eine seiner typischen Reden. Jedes Wort eine Absicht, jeder Satz ein Wunsch – und so reihte er Befehl an Befehl, ja spuckte sie geradezu aus: die Hütte mit Feuerstelle und ohne fliessendes Wasser am Fuss der libanesischen Berge, am Rand der Zedernwälder, Traktor, Lastwagen, Motorrad, Hühner, Gockel, Eier, Schafe, Schafsböcke, Lämmer, Pferde, Fohlen.
Tomaten, Auberginen, Gurken, Pflaumen, Kirschen, Mandeln und Mandarinen baue man selber an. Bohnen, Öl, Salz, Reis, Kichererbsen, Brennholz, Benzin und Kleider hingegen müsse man kaufen.
Und in dieser Hütte gäbe es genug Platz für mich und meinen Laptop und manchmal ein Stückchen Freiheit für einige Wochen Tel Aviv oder Zürich, über Zypern oder Beirut. Und er sässe am Feuer und würde nichts tun, nur warten, auf mich warten, mit strahlend blauen Augen – wie Bergseen – ins fluoreszierende Gletschereis unter hellem Winterhimmel schauen und warten.
Das Dorf liegt in der Nähe der israelischen Grenze auf den Golanhöhen, am Fuss des Bergs Hermon, hat Sami gesagt. Auf der Landkarte liegt es jedoch in der Beeka-Ebene. Weit vom Golan und dem Berg Hermon entfernt.
Beirut ist weit, das Gebirge hoch und der Fluss, der den Namen Hundefluss trägt, wild und unpassierbar.
Das war sein Plan für unsere Zukunft.
Für Sami war das Dorf die Welt. Die von der syrischen, der libanesischen und der israelischen Armee abwechselnd überrannt und zerstört wurde. Später marschierte die schiitische Hisbollah-Miliz in die Dörfer ein, beschoss die Häuser, verwüstete die Gärten und blieb. Sie gab sich als Wohltäter aus und drückte den kriegsmüden und hungrigen Menschen Geld in die Hand und schrie über die Dorfplätze hinweg: Baut eure Häuser! Bepflanzt eure Gärten! Bestellt eure Felder! Was braucht ihr noch? Strassen? Wasser? Elektrizität? Schulen? Spitäler? Ihr bekommt alles, was euer Herz begehrt! So unterwarf die Hisbollah-Miliz, die Partei Gottes, die besitzlose, mit Angst und Hass angefüllte schiitische Bergbevölkerung in den Zedernwäldern und die Talbewohner der Beeka-Ebene. In der Gemüse, Getreide, Tabak und Wein im Überfluss wächst – und der rote Libanese, das weltweit beste Cannabis. Jeder Bauer baut ihn an, um den Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen: den verbotenen roten Libanesen.
Erste Version einer Geschichte: Sami war bereits in Beirut und studierte Mathematik. Da erfasste ihn eines Tages eine unerklärliche Angst. Er rief seine Mutter an, sie brach in Tränen aus, schluchzte und war kaum in der Lage zu sprechen: «Der kleine Bruder … Eine Bombe … Der kleine Bruder tot … Eine Bombe … Der kleine Bruder in Stücke gerissen … Eine Bombe … Der Vater im Krankenhaus … Der Vater schwer verletzt …»
Sami hatte Monate zuvor sich mit einem Cousin in den Gassen des Dorfes herumgetrieben. Da lief der Sohn der Nachbarn, ein Offizier der christlichen Phalangisten, vorbei, blieb stehen und baute sich breitbeinig und grinsend vor den zwei Jungs auf.
Ein Schuss löste sich – Stille.
Sami beugte sich über den toten Mann und wunderte sich über das kleine Loch in der Stirn.
Wenige Wochen nachdem der kleine Bruder durch die Rache der christlichen Nachbarn ums Leben gekommen war, bekam Sami ein Stipendium der französischen Regierung und flog nach Grenoble, in die Stadt, die zwischen den Tannenwäldern der Alpen und den Lavendelbüschen des Zentralmassivs liegt – und erreichte schliesslich Marseille.
Zweite Version: Syrische Soldaten zerrten den kleinen Bruder vom Traktor und bestiegen johlend das Gefährt. Sie hatten das Dorf besetzt und die Felder gestürmt.
Da sie jedoch nicht wussten, wie man einen Traktor bedient, verloren sie die Kontrolle und überrollten den damals gerade mal fünfzehn Jahre alten Jungen. Sie sprangen vom Gefährt, liessen Sami mit seinem toten Bruder zurück und beschuldigten ihn, den Traktor gefahren zu haben.
Dritte Version: «Er oder wir. Seine Familie oder unsere Familie», wiederholte Sami mehrmals und versuchte mir zu erklären, warum es notwendig gewesen war, den phalangistischen Offizier, den Sohn der Nachbarn, zu töten.
Und ich, die immer wieder fragen wollte: «Hast du geschossen? Ist es nicht so gewesen? Du hast doch geschossen?»
Und: «Bist du gefahren? Ist es nicht so gewesen? Du bist doch den Traktor gefahren?»
Meine Handflächen waren nass und mein Herz schlug im Hals, obwohl keine Gefahr bestand, einer unerträglichen Wahrheit begegnen zu müssen. Denn ich wusste um seine Fähigkeit zur Lüge.
Ja, Sami kann lügen! Mit seinem unfassbaren Leiden lullt er mich behutsam ein. Bis ich schlussendlich nicht mehr weiss, ob es mein Gefühl ist oder mein Gegenüber, das mich trügt.
Als wir zum ersten Mal in Samis Wohnung Pittabrot und Hummus assen und Rotwein tranken, fühlte ich mich abgestossen. Mit den Fingern stopfte er das Essen hastig in sich rein, kaute lange und sprach gleichzeitig, und seine Hände, die bereits die nächste Portion festhielten, fuchtelten vor meiner Nase herum. Später bemerkte ich seine disziplinierte Mässigkeit. Denn er ass nie zu viel. Nahm aber in regelmässigen Abständen kleine Happen zu sich.
Ich jedoch wurde unmässig. Wollte ununterbrochen in seinen Körper hineinkriechen, mich in ihm auflösen und vollständig verschwinden.
Und so konnte ich nicht mehr arbeiten, nicht mehr kochen, meine Wohnung nicht mehr putzen, das Kind nicht versorgen, und wenn meine Freunde mich ansprachen, fiel mir nichts ein, leeres Gehirn, leeres Grinsen, leeres Geschwätz.
Das Leben bündelte sich in dieser einen Sekunde, die es brauchte, die Arme um einen anderen Körper zu schlingen. Ja, meine Welt verkleinerte sich auf seine Hände. Seinen Bauch. Seine Beine. Seine Augen. Seine Lippen. Seinen Schwanz.
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