Nie hatte mich jemand so gehalten. Nie. Jemand so geliebt. Nie. Es gab keinen Anfang und kein Ende. Kein Aussen und kein Innen. Kein Ich und kein Du.
Deine schroffe Antwort auf meine Briefe: «Wenn diese Liebe darüber Auskunft gibt, wer du in deinem Innersten bist, dann habe ich mich in dir getäuscht. Ich will mich aber nicht täuschen. Darum – lass es! Es gibt nichts Schrecklicheres als diese Art der Abhängigkeit.»
Es gäbe Heterosexuelle, Homosexuelle, Transsexuelle und solche, die unerreichbare Träume fickten. Hast du noch hinzugefügt.
Ja, die Unerreichbaren. Sie begehren mich. Aber sie wollen mich nicht. Das heizt die Leidenschaft an – und die Liebe. Und es schützt mich vor den Enttäuschungen des Alltags und vor meiner Neigung, mich den Wünschen des anderen zu unterwerfen, um seine Liebe nicht zu verlieren.
Der Verlustschmerz fährt jedoch so richtig ein, wenn ich meine eigene Rolle erkenne. Ich bin es, die ihn nicht will. Ich bin es, die nur einer begrenzten, ausgeliehenen Liebe gewachsen ist. Ich miete mir dieses Liebeshaus für eine gewisse Zeit, weil ich das Gefühl brauche, jederzeit ausziehen zu können.
Warum kannst du das nicht verstehen?
Heute. Früh. Sieben Uhr. Im Hinterhof meiner Wohnung herrscht Ruhe. Nachdem Jugendliche, die nun ihr letztes Dosenbier trinken und eine der rostigen Schaukeln bis an ihre Grenzen zum Schwingen bringen, die Nacht durchgefeiert haben.
Auf dem Balkon, die Füsse auf der Brüstung, trinke ich Weisswein aus dem kleinen Supermarkt in der Hrnaluka, löffle Tomaten mit Zwiebeln und Dill und rauche. Starre auf die gegenüberliegenden Häuser, den kleinen Balkon, auf dem ich immer wieder dieselbe junge Frau sehe – das luftige Stofffetzchen an ihrem Körper bauscht sich im Wind.
Trotz der frühen Stunde und der kühlen Luft rinnt mir der Schweiss aus den Achselhöhlen und mir ist übel. Meine Bluse ist falsch geknöpft. Es ist diese Bluse, die du so magst: cyanblau mit lila Blüten und gelben Staubblättern – weisst du, dass die Schönheit der Blumen nur dem Zweck der sexuellen Vermehrung dient?
Ich knöpfe die ganze Reihe auf und wieder zu, einer der runden Kupferknöpfe fällt ab, so hab ich was zum Nesteln und Spielen und gleich fühle ich mich besser.
Der Himmel ist von rosa und glutroten Schlieren durchzogen und mit durcheinanderschwirrenden Schwalben bestückt. Die Morgensonne kitzelt frische Gerüche aus den Dingen. Die Pflanzen räkeln sich und furzen ins Universum. Der Wind vögelt die Bäume. Ich würde dir so gern diese Schwalben zeigen. Ihre Schwärme sind vibrierende Atome und bauen den Himmel.
Und ich vermisse Joel.
Wie er über den heissen Asphalt hüpfte, sich mit den schmutzigen Fusssohlen abstiess und jauchzte. Joel, der blass, mit Gänsehaut und blauen Lippen aus dem Wasser lief und sich bibbernd und beglückt in das warme Tuch wickeln liess. Das hungrige, ja gierige, tierische Schlingen und Verdauen von ausgespielten, ausgetobten, ausgewässerten, ausgesandeten Kindern. Wie er auf meinem Schoss immer schwerer wurde. Vollgesogen mit Sonne und Luft.
«Mama», sagte er leise. «Mama.» Und schlief ein.
Sami will mit mir zusammen in den Libanon ziehen. Seine Mutter allerdings hat für ihn eine junge Braut gefunden. Und sie besteht auf der Hochzeit. Für Sami ist das überhaupt kein Problem. Eine Ehefrau. Und eine Geliebte.
So ist das Leben.
Ich jedoch würde niemals eine andere Frau an seiner Seite akzeptieren und hoffe auf seine Einsicht, auf seine Vernunft und sage: Nein! Kommt nicht in Frage. Du heiratest keine andere.
Erste Version: Ich ziehe mit Joel zu Diogo. Zweite Version: Ich fahre mit Sami in den Libanon, ins Beeka-Tal, ich setze mich neben der jungen Braut ins Nest seiner Familie, in den grossen Garten seiner Mutter, Kirsch- und Mandelbäume, Gurken und Auberginen, Eierfrucht, hier sagen sie: Eierfrucht!
Dritte Version: Ich fliege nach Valparaiso.
Ich hoffe sowohl auf Samis wie auch auf Diogos Einlenken. Ich kämpfe um sie beide.
Was ist mit mir los? Warum bin ich so rücksichtslos?
Liebste Janika. Dein Selmachen
«In Holland besuchten Hendrik und ich das Geburtshaus seiner Mutter. Am Haus war eine Tafel angebracht, die an die Bewohner erinnerte, die nach Auschwitz deportiert worden waren .
Eine blasse, unscheinbare Frau stand am Fenster und beobachtete uns misstrauisch. In Holland gibt es ja selten Vorhänge .
Hendrik warf einen kurzen Blick auf das Haus und lief wütend davon. Ich folgte ihm und unterliess es wie gewöhnlich, ihn an seine Studentenzeit in Frankfurt zu erinnern. Es war mir absolut unbegreiflich, was ihn damals dazu bewogen hatte, in die NSDAP einzutreten .
Fassungslos schwiegen wir und gingen ins Hotel zurück.» Notat von Pauline Einzig
gary altman, anwalt, 54 jahre, lebt in toronto:Das Haus neben der Ruine der Synagoge und dem Restaurant Goldene Rose . Eingang zum ehemaligen Khalal. Das Licht am Ende des mit Büchern und Zeitschriften überfüllten Korridors. Das Flimmern der Staubwolken aus abgeschabten Teppichen. Pilzkaviar, Krautsalat mit Erbsen, Reis mit Mais, Apfelschnitze, Bananenscheiben, Gurkenscheibchen und Saft. Der Vorsteher der örtlichen Jeschiwa sitzt mit verrutschtem Tallit hinter einem mit Papieren übersäten Tisch, schreit ins Telefon und reisst an seinen Schläfenlocken.
Der wartende Gastgeber, versteckt hinter der halboffenen Tür: Gary Altman. Kleingewachsen und mager. Sakko, Weste und Hose aus bestem Tuch, feuchtes, nach hinten gekämmtes Haar, ein kluges Gesicht, ein starkes Kinn und ein entschlossener Mund. Während er spricht, mustert er mich prüfend, seine Augen kippen plötzlich hinter die Stirn.
Gary Altman: «Im Jahr 1941 überrannte die deutsche Wehrmacht die Westukraine. In Sambir trieben sie 2.000 Juden auf den jüdischen Friedhof. Von dort brachte man sie zum Bahnhof, pferchte sie in die Waggons und transportierte sie ins Konzentrationslager Belcec. Doch bereits im Dezember wurde Belcec geschlossen, da die Deutschen beschlossen hatten, den Holocaust in der Ukraine mit Hilfe der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN-B) durch systematische Erschiessungen fortzusetzen.
An Schawuot – damals lebten vielleicht noch viertausend Juden – kamen die Nazis erneut mit Helfern aus der OUN-B ins Ghetto, brachten die Leute zu Fuss oder auf Lastwagen in den nächstliegenden Wald – auf Jiddisch heisst er Radlivka, auf Deutsch Rodovice und auf Ukrainisch Ralivka. Sie wurden alle getötet und in Massengräbern, die sie zuvor selber hatten ausheben müssen, verscharrt.
Eine kleine Gruppe von 26 Leuten versteckte sich während achtzehn Monaten in den Kellern eines alten Kornspeichers, bis die Russen sie befreite.
So überlebten meine Eltern.
Auf dem zentralen Friedhof von Sambir überstanden nur wenige Grabsteine den Krieg. Der jüdische Teil des Friedhofs, gegen den Wald hin, verwilderte vollständig, niemand kümmerte sich darum.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kehrte Jack Gardner, ein Kanadier aus British Columbia, dessen Eltern ebenfalls die Massaker der Faschisten überlebt hatten, nach Sambir zurück und beschloss, den Friedhof zu retten. Er liess die übrig gebliebenen Steine ausgraben, an ihren ursprünglichen Ort zurücklegen, die Wiese reinigen und die Wege wieder herrichten und veranlasste, dass am Rand des Massengrabs ein Mahnmal aufgerichtet wurde.
Eines Nachts drangen ukrainische Nationalisten in den Friedhof ein, zerstörten das Mahnmal, verwüsteten die Landschaft und richteten an drei markanten Stellen zehn Meter hohe Stahlkreuze auf. Jack Gardner gab auf und starb an gebrochenem Herzen. Und vor drei Jahren bin ich nach Sambir gekommen, um den Geburtsort meiner Eltern kennenzulernen. Ich besuchte den Friedhof, entdeckte mit Entsetzen die drei Kreuze und versprach, das Werk von Jack Gardner zu vollenden.
Читать дальше