Eine etwas betagte Klosterfrau öffnet die Fensterklappe der massiven Türe und gibt gleich ungefragt, aber dafür umso deutlicher, zu verstehen, dass ich hier kein Zimmer für die Nacht bekomme! Ich grüße sie mit einem Sonntagslächeln und erfreue sie mit der Mitteilung, dass ich nicht auf Quartiersuche bin, mich aber über einen Pilgerstempel von dieser schönen Klosteranlage sehr freuen würde. Daraufhin nimmt sie freudestrahlend meinen Pilgerausweis und eilt von dannen. Mit einem strahlenden Gesicht kommt sie zurück, den Stempel in meinem Buch und zwei Tomaten und Äpfel in der Hand als Wegzehrung. Ich nehme alles dankbar an, bedanke mich artig und fülle im Klosterbrunnen nebenan gleich noch meine Wasserflaschen mit dem köstlichen Nass.
Der Blick auf meinem Weg ist immer auf den großen und kleinen Mythen gerichtet. Diese zwei Berge werden bis übermorgen in der Früh der Blickfang auf meiner Tour sein. Obwohl sie mit einer Höhe von 1898 sowie 1811 Metern nicht unbedingt zu den höchsten Gipfeln der Schweiz gehören, sind sie mit ihrer massiven Felsformation ein markanter Blickfang in der Region. Aus allen Blickrichtungen und Tageszeiten werden die zwei Gipfel meine treuen Gefährten sein.
Glücklich erreiche ich das kleine Gebirgsdorf Alpthal mit seiner schönen Dorfkirche. Bei Familie Schuler habe ich mich schon telefonisch angemeldet und freue mich, diese Nacht in einer Blockhütte zu nächtigen, welche im Winter neben dem Kloster Einsiedeln als Teehütte Verwendung findet, wenn ich das richtig verstanden habe. Jede Nacht eine andere Variante der Pilgerbeherbergung.
Mythen
Ich werde freundlich aufgenommen und sehr gut versorgt. Frau Schuler macht Spaghetti bolognese mit grünem Salat. Genau das Richtige für einen hungrigen Pilger. Dazu bediene ich mich aus der umfangreichen Teekiste mit diversen Teesorten. Man kann fast nicht genug trinken, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Obwohl die Witterung eher kühl ist, hat der Körper bei der Dauerbelastung einen hohen Flüssigkeitsverlust auszugleichen.
Zwei Pilgerinnen aus Tettnang sind ebenfalls in einer der Blockhütten untergebracht. Sie sind heute Morgen in Pfäffikon gestartet. An dieser Pilgerherberge am Beginn des Anstiegs zum Etzelpass bin ich heute Morgen auch vorbeigekommen. Die Ältere der beiden ist sehr redselig, die jüngere ist eher wortkarg und geht auch nicht auf das unter Pilgern übliche Du ein. Also gut, dann bleiben wir halt beim förmlichen Sie. Sie betreibt eine Pension und hat diese Pilgerreise zum Geburtstag als Erholung und Auszeit von Pension, Gästen und Familie erhalten. Das ist doch mal ein schönes Geschenk.
Unsere Gastgeberin kommt noch an den Tisch. Gesprächsstoff über das Leben hier in den Bergen, die Nähe zum Kloster Einsiedeln und die langen Winter gibt es genügend. Der Einfluss des Klosters in der Region ist aus ihren Erzählungen immer wieder zu spüren. Nicht nur in der Einstellung zum Glauben. Auch der Tourismus und sehr viele Arbeitsplätze der Gewerbebetriebe sind wirtschaftlich stark an die Anziehungskraft des Klosters gebunden. Gemütlich lassen wir den Abend ausklingen und beziehen unsere Holzhütten.
Ich habe noch lange das Licht an, schreibe mein Tagebuch und studiere meinen Reiseführer. Ein Telefonat mit der Heimat wird etwas länger als üblich. Draußen regnet es. Hoffentlich wird es morgen wieder trocken. Ich habe eine anstrengende Bergetappe vor mir.
17. Pilgertag, Montag, 04.05.2015
Alpthal–Beckenried 17 km, Gesamt: 319 km
Bereits um 07.00 Uhr frühstücke ich zusammen mit den zwei Pilgerinnen aus Tettnang.
Anschließend packe ich meine Siebensachen zusammen, ein kurzer Blick auf meine Holzhütte, die rechte, und los geht’s. Und zwar gleich richtig steil bergan. Es regnet, aber schon nach kurzer Zeit kann ich mich des Ponchos entledigen. Meine Windjacke ist völlig ausreichend.
Hütte Alpthal
Anstieg zum Haggenegg
Ich befinde mich auf dem Anstieg zum „Haggenegg“, mit 1414 m auf der Passhöhe der höchste Punkt auf dem Schweizer Jakobsweg. Plötzlich höre ich in einiger Entfernung hinter mir bekannte Stimmen. Die zwei Damen müssen also bald nach mir gestartet sein und sind offensichtlich bei guter Kondition. Bei einer kleinen Kapelle mache ich Rast. Und schon kurz danach kommen die beiden ebenfalls angeschnauft und entledigen sich ihrer Rucksäcke.
Der steilste Teil des Anstiegs ist geschafft. Nun geht es auf guten Wegen vorbei an einer Schutz- und Rasthütte nur noch gemächlich aufwärts. Auf der gegenüberliegenden Bergkette ist die Schneegrenze jetzt deutlich tiefer als mein augenblicklicher Standort. Die majestätischen Gipfel der zwei Mythen sind neben mir fast zum Greifen nah. Manchmal ist es schöner, wenn man in der Nähe von solchen markanten Bergen einen Pass überquert. Dann hat man einen schöneren Anblick. Ich bin jetzt mittendrin in den Bergen. Ein erhebendes Gefühl. Und plötzlich, nach einer kleinen Kuppe stehe ich auf der Passhöhe und sehe vor mir den kleinen Berggasthof. Aus meinem Rother-Reiseführer entnehme ich, dass hier der berühmte Johann Wolfgang von Goethe am 16. Juni 1775 auf seiner Reise durch die Schweiz genächtigt hat.
Heute hat das Berggasthaus leider Ruhetag. Schade, eine kurze Rast bei einer Tasse Kaffee hätte ich jetzt auf dem höchsten Punkt des Schweizer Jakobsweges gerne gemacht.
Haggenegg
Ein paar Meter vom Berggasthaus entfernt, gleich nach der Passhöhe, steht die kleine Pilgerkapelle. Ein kurzes besinnliches Innehalten ist angesagt. Ein kurzes Pilgergebet und ein paar dankbare Worte, dass ich gesund durch diese schöne Bergwelt pilgern darf. Nichts im Leben, zumindest die angenehmen Dinge, sind selbstverständlich. Man muss sich alles täglich neu erarbeiten. Da geben einem dann solche unbeschwerte Tage in schöner Umgebung neue Kraft und Motivation.
Einen schönen Pilgerstempel kann ich in meinen Pilgerausweis drücken. Fasziniert bin ich von der Holztür in die Kapelle. Kunstvoll ist auf der Außenseite eine Jakobsmuschel geschnitzt. Die Spuren der Pilger sind in der Schweiz an fast jedem Ort sichtbar. Es ist kein Phänomen unserer Zeit, diesen Weg zu gehen – nein, die wahren Pilger waren schon lange vor uns hier, wir wandeln nur auf ihren Spuren!
Pilgerkapelle Haggenegg – am höchsten Punkt des Schweizer Jakobsweges
Nun geht es wieder abwärts. Eintausend Höhenmeter hinunter auf zum Teil recht steilen Gebirgspfaden. Je näher ich dem Tal komme, desto mehr Wirtschaftswege darf ich gehen. Die sind dann auch nicht mehr so steil. Es wird deutlich, dass der Anstieg zum Haggenegg vom Zürichsee gerechnet zweigeteilt war. Der erste Teil rauf zum Etzelpass und Einsiedeln. Der zweite Teil dann heute von Alpthal hinauf zur Passhöhe auf 1414 Meter Höhe. Hinunter auf 430 Meter Höhe geht es jetzt aber unendlich lang in einem Stück.
Ich komme nun ins Herz der Schweiz, nach Schwyz. Dieser Name ist nicht nur die Bezeichnung für eine traumhaft schöne Stadt. Schwyz ist auch die Bezeichnung für einen Kanton und für einen Bezirk. Und nachdem Schwyz der wichtigste der drei Urkantone war, wurde dieser Name auch für die gesamte Eidgenossenschaft verwendet. Daraus leitet sich überdies die italienische und französische Form der Namensgebung der Schweiz ab.
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