1 ...8 9 10 12 13 14 ...25 Entlang einem kleinen Naturschutzgebiet mit seinen blumenreichen Wiesen und einem kleinen Bachlauf erreiche ich schon bald Gibswil. Mein heutiges Tagesziel mit der Pilgerherberge im „Drösli“. Drösli bedeutet so viel wie Scheune. Rustikal, aber sauber und mit sehr freundlicher Betreuung. Ich werde ganz herzlich aufgenommen. Und den Schlafraum mit ca. fünfzehn Matratzenlagern habe ich heute für mich allein. Tags zuvor hätte ich nette Damengesellschaft gehabt.
Nach einer erfrischenden Dusche mache ich es mir mit den Wirtsleuten, Ursula und Jörg, sowie einem Ehepaar aus dem Ort bei einem Gläschen Bier gemütlich. Zum Abendessen gibt es eine köstliche Suppe mit Gemüse, Nudeln und Wurst. Alles drin, was ein Pilger zur Stärkung braucht. Schmeckt herrlich.
Abends sitze ich mit Jörg noch ein Stündchen beim selbst gemachten Likör. Er erzählt mir von seinen Erlebnisse als Herbergsvater. Es sind viele Gruppen unterwegs. Für die ist so ein Quartier natürlich Gold wert. In jeder Hinsicht. Günstig, sauber und sehr gemütlich. Da kann eine Gruppe am Abend auch mal feuchtfröhlich zusammensitzen und feiern.
Wie befürchtet, hatte der Wetterbericht recht, und am nächsten Morgen werde ich von einem ausgiebigen Landregen erwartet. Auch ein erfahrener Landmann im nahegelegenen Ortsladen meint: „Das hört heut nüt uff!!!“ Die Wolken haben sich im Tal so richtig festgezurrt. Für solch einen flächendeckenden Regen bin ich noch nicht ausgerüstet.
Ein halber oder ganzer Ruhetag und abwarten, bis sich der Regen wieder etwas verzieht, würde sich angesichts meiner ohnehin überschaubaren restlichen Strecke nicht lohnen. Ich entschließe mich deshalb, vom nahegelegenen Bahnhof gleich die Heimreise anzutreten. Und während ich im Zug sitze, freue ich mich bereits darauf, nächstes Jahr nach Gibswil zurückzukehren und meine Pilgerschaft mit verbesserter Ausrüstung fortzusetzen.
15. Pilgertag, Samstag, 02.05.2015
Gibswil–Rapperswil: 16 km, Gesamt: 279 km
… der Mai ist gekommen – und damit auch wieder meine Pilgertage.
Der Wecker klingelt früh, bereits um 06.00 Uhr setze ich mich ins Auto und fahre freudig und voller guter Erwartungen nach Gibswil.
Es regnet. Der Wetterbericht gibt mir jedoch etwas Hoffnung. Und tatsächlich: Um 07.00 Uhr sehe ich den ersten blauen Himmel – allerdings nicht lange. Um 07.45 Uhr fahre ich den Bodensee entlang, und es regnet, regnet, regnet …
Ich freue mich trotzdem. Von Konstanz geht es entlang meiner letztjährigen Route über Tobel, Kloster Fischingen nach Gibswil. So hab ich gleich wieder die richtige Pilgerstimmung, wenn ich an bereits bekannten Pilgerstellen vorbeifahre.
In Gibswil trinke ich im Restaurant erst mal einen Cappuccino, bevor ich mein Auto auf einem allgemein zugänglichen P+R-Parkplatz abstelle. Auf der Parkplatzsuche erblicke ich eine Gruppe Rucksackwanderer. Voll bepackt und unter Regenponchos eingemummt suchen sie offensichtlich noch das passende Gruppentempo. Ich nehme an, dass es sich um eine Pilgergruppe handelt, welche hier in der Pilgerherberge genächtigt hat.
Am Parkplatz habe ich dann meine liebe Mühe, meine Siebensachen regensicher zusammenzupacken und dann den Neuen, in der Handhabung noch etwas befremdlichen Regenponcho darüberzuziehen. Als ich das endlich alles kapiert habe und fertig bin, ist plötzlich der Regen weg. Also Kommando zurück: Regenponcho runter, Windjacke an, und los geht’s! Ach du Schande, hoffentlich hat mich jetzt niemand beobachtet …
Blick Rapperswil
Die Strecke führt auf einem welligen Höhenweg durch kleine Weiler oberhalb des Tales auf einer Hochebene. Ich kann unter mir immer wieder die große, viel befahrene Straße, die Eisenbahnlinie und kleine Dörfer erkennen. Hier oben ist es sehr ruhig, und ich bin mit sehr viel Landschaft gesegnet. Plötzlich, ein alter Bauer hat es mir schon angekündigt, sehe ich nach einer Wegbiegung zum ersten Mal den Zürichsee mit Rapperswil, meinem heutigen Etappenziel.
Es sind jedoch noch einige Kilometer zu gehen. Unter anderem geht es runter ins hier sehr enge Tal und auf der anderen Seite wieder steil nach oben. Da komme ich dann doch ins Schwitzen, zumal auch so langsam die Sonne immer mehr die Oberhand gewinnt und die Temperaturen entsprechend ansteigen.
Gleich oben auf der Anhöhe treffe ich die Wandergruppe von heute Morgen bei einer kleinen Vesperpause. Sie bestätigen meine Vermutung. Es ist eine organisierte Pilgergruppe, welche in Gibswil im „Drösli“ genächtigt hat und von Konstanz bis zum Kloster Einsiedeln gehen will.
Mit einem fröhlichen „Buen Camino“ verabschieden wir uns. Kurz darauf kann ich auch meine Windjacke im Rucksack verpacken. Es sind jetzt angenehme Temperaturen. Und so lege ich auf einer kleinen Bank am Waldesrand ebenfalls eine Vesperpause ein und telefoniere mit der Pilgerherberge in Rapperswil bezüglich einer Bettreservierung. Ich habe Glück. Es ist nur noch ein Bett frei, und das gehört jetzt mir.
Mein Pilgerweg führt mich durch eine wunderbare frühlingshafte Landschaft mit Blick auf die noch schneebedeckten Berggipfel. Es ist traumhaft schön. Ich bin in einer anderen Welt gelandet, fern von jeglichen Alltagssorgen, Berufsstress und über was wir sonst so alles klagen und jammern. Bereits wenige Stunden auf meinem Pilgerweg haben mir wieder die Augen auf- und den Kopf freigemacht über das Sein in seiner unverfälschten Originalausgabe des Tuns.
Ich bin, ich möchte, ich kann, ich tu’s. Ich tu’s, weil ich es möchte, weil ich es kann – ich werde mitunter auch an meine Grenzen gehen: nicht weil ich es muss – nein, weil ich es möchte, dann kann ich es auch, egal wie weit die Grenzen weg sind.
Mitunter werden die Grenzen auch schon sehr schnell aufgezeigt werden – dann werde ich auch diese Grenzen einhalten. Auch hier nicht, weil ich es muss! Nein – auch hier, weil ich es kann. Ich kann nicht nur große Strecken hinter mich bringen. Nein, ich kann es mir leisten, zur Erholung auch mal nur eine kurze Distanz zurückzulegen. Weil ich im Besitz der kostbarsten Währung dieser Welt bin. Diese Währung kann sich niemand kaufen, nicht mit den größten Schätzen dieser Welt. Auf meinem Pilgerweg bin ich im Besitz von unendlich viel Zeit.
Zeit, die ausgefüllt ist mit unendlich vielen Empfindungen, Erwartungen und Erlebnissen. Schritt für Schritt durch die unverfälschte Natur, den böigen Wind, die brennende Sonne, den nassen Regen. Auch mal den Schweiß auf der Haut fühlen, die Umwelt durch Nase, Ohren und Augen allen Sinnen zuführen, welche jede Kleinigkeit wie ein Schwamm aufsaugt. Dankbar nehme ich so unsere Schöpfung, mein Sein und mein Tun mit einer innerlichen Zufriedenheit wahr.
Mit solchen und ähnlichen Gedanken erreiche ich bald Jona, eine kleine Stadt, welche mit Rapperswil eine Einheit bildet. Zu Beginn durchschreite ich einen Erholungswald mit Trimm-dich-Pfad. Viele Jugendgruppen sind unterwegs, Jogger, Radler, Skater … Ein reges Treiben und eine angenehme Freizeitstimmung.
Bald erreiche ich jedoch die richtige Stadt, habe neben mir den ganzen Straßenlärm, rieche die stinkenden Abgase und fühle mich mit Rucksack, Wanderstöcken und Pilgeroutfit wieder einmal so richtig fehl am Platz. Wie zur Bestätigung meiner Seelenlage hat sich auch die Sonne wieder hinter drohende Wolken verzogen.
Die Stimmungslage ändert sich aber schlagartig, als ich den Stadtkern mit der Pilgerherberge und der Seepromenade erreiche. Genüsslich setze ich mich auf eine Parkbank und beobachte die Menschen um mich herum. Ich genieße die Pause und warte, bis die Pilgerherberge ihre Pforten öffnet.
Pünktlich stehe ich vor der Tür und bin eigentlich gar nicht überrascht, dass auch die Pilgergruppe von heute Nachmittag hier übernachtet. Da ich als Erster im Schlafraum bin, kann ich mir meine Liege aussuchen und habe so den Vorteil, kein Stockbett nehmen zu müssen, und das auch noch in Fensternähe. Passt alles wunderbar. Einer Pilgerin der Gruppe kann ich noch mit Blasenpflaster und Salbe helfen, so kommen wir alle gleich ins Gespräch.
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