Es wird zum damaligen Zeitpunkt noch Jahre dauern, bis die Schwester gegen solche Behandlung aufbegehrt. Acht Jahre nach ihrem Psychiatrieaufenthalt fährt sie nach Schwarzach, um der Oberärztin der Psychiatrie von damals zu sagen: „Jeder Mensch mit einer Depression hat das Recht zu sagen, dass es ihm noch immer ganz schlecht geht.“ Mit der frommen Assistenzärztin, die damals immer wieder zum Beten in ihr Krankenzimmer gekommen ist, wird sie Jahre später ebenfalls sprechen und dabei erfahren, dass diese inzwischen Glaube und Medizin trennt.
Während ihres Spitalsaufenthaltes hatte es auch schöne Szenen gegeben. Eine Ärztin hatte mit einer einfachen, sehr menschlichen Geste Schwester Michaelas Herz berührt.
Während des stationären Aufenthaltes auf der Psychiatrie habe ich weiter meine Suizidgedanken überspielt, mich nur selten dem Pflegepersonal anvertraut. Deshalb haben sie mir gesagt, ich solle mich melden, wenn ich wieder so schlimme Suizidgedanken hätte. Eines Abends ist es mir richtig schlecht gegangen. Ich habe Bescheid gegeben. Die Schwestern haben mir gesagt, sie schicken mir die Ärztin. Die hat sich zu mir ans Bett gesetzt und gesagt: „Ich bleibe bei Ihnen, bis Sie schlafen.“ Das war so ein feines Gefühl. Sie hat mich gefragt, ob ich meine Medikamente genommen habe, noch ein paar Worte geredet und ich bin eingeschlafen. Diese kleine Geste hat mich so berührt. Sie hat mir gezeigt, dass ich nicht alleine bin und dass ich ein Stück weit verstanden werde. Acht Jahre später habe ich sie mit einem Gugelhupf besucht und mich noch einmal bedankt. Und siehe da: Die Ärztin hat sich auch noch genau an den Abend erinnert .

Schwester Michaela vor ihrer Krise: Sie war Krankenschwester aus Leidenschaft, für jeden Spaß zu haben und immer bereit dazu, anderen zu helfen. Ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen kannte sie nicht.
Menschen, die sie annähernd verstanden haben, waren der Ordensschwester neben der fachärztlichen Begleitung die größte Hilfe auf dem Weg der Besserung. Ganz langsam ist sie wieder auf die Beine gekommen. Auf ein Blatt Papier zeichnet Schwester Michaela mit Kugelschreiber eine Linie. Setzt eine kleine Stufe, dann wieder eine lange Linie bis zur nächsten kleinen Stufe. Die Treppe symbolisiert ihren Genesungsverlauf: Immer wieder geht es ihr in den ersten Jahren nach dem stationären Psychiatrieaufenthalt monatelang gleich schlecht. Dann kommt ein kleiner „Hupser“ – ein Tag, der ein bisschen besser ist. Danach wieder eine lange schwierige Phase und es macht wieder einen „Hupser“. Die Schwester zeigt auf die oberste Stufe ihrer Zeichnung.
Auf der obersten Stufe bin ich nach mehr als zehn Jahren angekommen. Es ist immer auf und ab gegangen. Das war ein langer Gesundungsprozess. Mit der Zeit habe ich endlich erkannt: Wenn sich an meinem Zustand etwas verändern soll, kann und muss ich meinen Beitrag dazu leisten. Und verbessern kann sich nur dann etwas, wenn ich alte Verhaltensweisen loslasse und neue annehme. Endlich habe ich mir zugestanden: „Heute geht es schwer, aber morgen geht es wieder leichter.“ So denken zu dürfen, das habe ich mühsam lernen müssen, doch es hat mich viel gelassener und wieder zuversichtlich gemacht. Sehr geholfen hat mir, dass ich seit dem Klinikaufenthalt alle sechs Wochen zur Oberärztin der Psychiatrie gehen darf. Außerdem nehme ich Psychotherapiestunden und meine Tablette. Die Tablette will ich gar nicht lassen, denn ich will das nie, nie wieder erleben. Zu den Mitschwestern sage ich immer: „Ihr müsst mir eine Packung Cipralex in den Sarg legen. Sicher ist sicher!“
Inzwischen geht es der Ordensschwester wieder gut. So gut, dass sie mit ihrer Krankheits- und Gesundungserfahrung heute als Genesungsbegleiterin eine wertvolle Stütze für psychisch erkrankte Menschen ist. Die Schwester, die jetzt Zivilkleidung trägt, arbeitet seit 2016 mehrmals pro Woche im Peer Center Salzburg. Seit 2018 leitet sie diesen vom Land Salzburg finanzierten Verein, der kostenlose Beratung und Gruppenangebote anbietet. Hier arbeiten ehrenamtlich weitere Genesungsbegleiterinnen und -begleiter. Diese müssen selbst einmal an einer psychischen Krankheit gelitten haben, Psychotherapie absolviert haben und Psychopharmaka genommen haben. Dazu gehört auch, dass sie auf dem Weg der Gesundung schon ein gutes Stück vorangekommen sind.
Was unsere Teammitglieder sich während ihrer eigenen Erkrankung gewünscht hätten, das leisten sie im Peer Center für Betroffene. Wir hier wissen, wie sich beispielsweise eine Depression wirklich anfühlt. Dadurch fühlen sich unsere Besucherinnen und Besucher verstanden. Man ist hier auf Augenhöhe. Allen ist gemein, dass sie persönliche Erfahrungen mitbringen. Die Besucherinnen und Besucher müssen nicht erklären, was sie gerade empfinden. Wir kennen die Probleme. Das haben viele unserer Besucher in der Klinik oder bei ihren Therapeuten vermisst. Einen Menschen, mit dem man ohne Tabus auf Augenhöhe über die eigene Krise reden kann. Einen Menschen, der sagen kann: „Ich habe das auch erlebt. Wenn du willst, begleite ich dich durch diese schwere Zeit.“
Mittlerweile Seniorin, blüht Schwester Michaela in ihrer neuen Arbeitsstelle auf. Man sieht es ihr an. Wenn sie von ihrer ehrenamtlichen Arbeit redet, strahlt sie über das ganze Gesicht. Die Arbeit macht ihr Freude. In den Jahren ihrer Genesung hat sie gelernt, zu ihren Bedürfnissen zu stehen. Endlich weiß sie, was zu tun ist, wenn sie sich einmal schlecht fühlt. Sie geht auch weiterhin wöchentlich zu ihrer Psychotherapeutin und alle zwei Monate zu ihrer Psychiaterin. Und endlich hat diese Krise etwas Gutes. Schwester Michaela gibt mit Herzblut all das weiter, was sie gelernt hat. Beispielsweise, dass Betroffene niemals sofort ihre Tabletteneinnahme abbrechen sollen, auch wenn es ihnen momentan besser geht. Oder dass sie nach einem Psychiatrieaufenthalt möglicherweise ihren Arbeitsplatz und ihre privaten Lebensumstände ändern müssen.
Aus meiner Krise habe ich viele Erfahrungen mitgenommen. Als ich gesehen habe, dass ich damit vielen Leuten helfen kann, wollte ich das tun. Das ist wohl das Wesen einer Krankenschwester, da habe ich lebenslänglich bekommen . (Sie lacht laut auf.) Aber ich habe während meiner Genesung gelernt, auch mich selbst zu lieben und meinen Bedürfnissen Platz zu geben. Inzwischen kann ich schon viel besser nein sagen. Ich bin selbstbewusster geworden und mache mir für meine Arbeit jetzt einen genauen Zeitplan. Wenn ich Energie brauche, gehe ich in die Natur, male, stricke, höre Musik oder gehe mit Freundinnen auf ein Eis. Dann fühle ich mich gleich wieder ruhiger, freudiger und stärker. Meine allerwichtigste Erfahrung aus dem Ganzen ist: Dass ich selber erlebt habe, wie man aus einer völlig aussichtlosen Situation, wo der Selbstwert unter null ist, etwas ganz Neues machen kann. Und zwar so, wie man es nie für möglich gehalten hätte. Ich weiß heute, dass diese Krise zum größten Segen meines Lebens geworden ist .
Weil sie das Wesen einer großen Schwester, einer Krankenschwester noch immer in sich trägt, setzt sich die Lungauerin mit Herz und Seele für das Peer Center ein. Sie berät Besucher, sie hält Wahrnehmungsgruppen, Frühstücks-Gesprächsgruppen und das Team zusammen. Zusätzlich macht die Genesungsbegleiterin Zeitungsredaktionen auf das Center aufmerksam und trommelt, wo sie kann, um Geld. Denn die Fördermittel von Land und Stadt, um Miete, Öffentlichkeitsarbeit und Informationsbroschüren zu bezahlen, sind sehr knapp bemessen. Mit ihrer offenen Art gewinnt die Seniorin immer wieder Förderer. Denen erklärt sie anschaulich, was ihr Team hier macht und redet dabei, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Manchmal muss sie schimpfen. Es ist etwas Rebellisches in ihr zum Vorschein gekommen. Sie weiß, wofür sie kämpft.
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