• Assoziationsfähigkeit/Urteilsfähigkeit/Pragmatik: Schließlich braucht unser Student die Fähigkeit der Assoziation. Das bedeutet, er muss die verschiedenen Informationsquellen situationsangemessen miteinander verknüpfen können und zu naheliegenden Urteilen kommen, um in solchen Situationen angemessen bestehen zu können.
All diese genannten neurokognitiven Teilleistungen werden von dem Begriff des Ichs zusammengefasst. Diese Analyse soll illustrieren, dass das Ich bei genauer Betrachtung nicht etwas Einheitliches, sondern ein Sammelbegriff für verschiedene psychobiologische Leistungen eines Menschen ist, die allesamt mehr oder weniger gut und leistungsstark ausgeprägt sein können. Der Begriff der Ich-Störungen beschreibt Auffälligkeiten im Ergebnis des komplexen Gesamtprozesses, der das Ich hervorbringt.
Diese Analyse zeigt, dass die genaue Neurophysiologie, die sich hinter den sogenannten Ich-Störungen verbirgt, sehr vielgestaltig sein könnte. Bislang ist die genaue Pathophysiologie von Ich-Störungen unklar. In den Kognitionswissenschaften beschäftigen sich aber zahlreiche Wissenschaftler weltweit damit, diese Hirnfunktionen und Leistungen besser zu verstehen. Die Analyse veranschaulicht auch, dass dabei die genauen Funktionsstörungen durchaus nicht einheitlich sein müssen, sondern auf verschiedenen Ebenen der zentralnervösen Informationsverarbeitung liegen könnten. Zwar liegt es aus rein theoretischer Perspektive nahe, dass es vor allem die Psychobiologie der Assoziations- und Urteilsfähigkeit sein könnte, die bei den Ich-Störungen beeinträchtigt ist. Aber zum einen ist noch völlig unklar, was das aus der Perspektive des Gehirns genau ist. Und zum anderen ist es durchaus denkbar, dass auch frühere Prozesse der Informationsverarbeitung etwa auf Wahrnehmungsebene oder im Kontext der sozialen Intelligenz eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Ich-Störungen spielen könnten.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass, wenn im ICD-11 von Auffälligkeiten des Selbst-Erlebens die Rede ist (z. B. das Gefühl, dass eigene Gefühle, Impulse, Gedanken, oder das Verhalten unter Kontrolle einer äußeren Macht stehen), damit inhaltlich das gemeint ist, was in der deutschen Tradition Ich-Störung genannt wird. Damit wird das komplexe Zusammenspiel verschiedener zentralnervöser Informationsverarbeitungsprozesse angesprochen, welches dazu führt, das Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle als die eigenen erlebt werden und eben nicht als fremde Gedanken oder die von anderen Menschen oder Wesen.
Mit den Auffälligkeiten des Selbst-Erlebens, auch Ich-Störungen genannt, ist das Gefühl gemeint, dass das eigene Wahrnehmen, Fühlen oder Denken von außen manipuliert wird.
2.2.4 Auffälligkeiten der Kognition (z. B. beeinträchtigte Aufmerksamkeit, verbales Gedächtnis und soziale Kognition)
Dieses ICD-11 Kriterium ist konzeptionell am ehesten in der DSM-5 Kategorie A.5 (Negativsymptome) enthalten.
Bereits oben wurde bei der Analyse dessen, was Selbst-Erleben oder Ich-Erleben im Alltag eines Menschen genau meint, darauf hingewiesen, dass die Ich-Funktionen auf eine Reihe weiterer neurokognitiver psychischer Leistungen zurückgreifen. Probleme in diesen Bereichen werden im ICD-11 unter der o. g. Überschrift angesprochen. Als Bespiele für solche kognitiven Symptome der Schizophrenie werden eine beeinträchtigte Aufmerksamkeit, schlechtere Gedächtnisfunktionen und eine reduzierte soziale Kognition angegeben. Insbesondere das sogenannte Arbeitsgedächtnis scheint dabei eine große Rolle zu spielen (Birbaumer und Schmidt 2010). Mit dem Begriff Arbeitsgedächtnis ist dabei eine neurokognitive Teilleistung gemeint, die Menschen im Rahmen ihrer Denkprozesse Informationen aus verschiedenen Quellen zur Verfügung stellt, die dann zu einem neuen Urteil in einer spezifischen Situation verarbeitet werden müssen.
Wenn wir etwa wieder die vorherige Kasuistik (
Kasuistik 2) betrachten, so muss unser Student sowohl visuelle Informationen als auch Geruchswahrnehmungen, Wissen über die Situation und Wissen über die Person zusammenbringen, um zu einer angemessenen Beurteilung der Situation zu gelangen. Der Begriff Arbeitsgedächtnis hebt dabei vor allem auf die Bereitstellung der verschiedenen informativen Teilaspekte ab. Der Begriff des Urteilens hebt mehr auf die wertende und gewichtende Verknüpfung oder Assoziation der verschiedenen Teilinformationen zu einem Urteil ab. Darüber hinaus werden die elementaren kognitiven Leistungen Konzentration und Aufmerksamkeit benötigt, um die eigenen psychischen Prozesse überhaupt auf ein Thema fokussieren zu können. All diese mentalen Teilleistungen sind unter der Überschrift der kognitiven Beeinträchtigungen zusammengefasst.
Im klinischen Alltag sind kognitive Beeinträchtigungen ein sehr unspezifischer Befund. D. h., sie treten bei fast allen Menschen sehr häufig irgendwann auf. Etwa bei Übermüdung, bei Alkohol- oder Drogenkonsum oder aber auch in Stresssituationen können die basalen kognitiven Leistungen Konzentration und Aufmerksamkeit z. T. erheblich beeinträchtigt sein. Und da höhere kognitive Leistungen wie z. B. die Gedächtniseinspeicherung und der Gedächtnisabruf, aber auch die Kritik- und Urteilsfähigkeit kritisch von Konzentration und Aufmerksamkeit abhängen, sind diese in der Folge auch beeinträchtigt. Allerdings normalisieren sie sich in der Regel rasch wieder, wenn die Stresssituation vorbei ist, der Schlafmangel behoben ist oder der Rausch ausgestanden ist. Im Kontext von schizophrenen Störungsbildern können sie dagegen überdauernd vorhanden sein.
Kognitive Beeinträchtigungen sind gleichzeitig sehr unspezifisch und beeinträchtigend. D. h., sie kommen sehr häufig auch unabhängig von schizophrenen Störungen vor, können aber gleichzeitig das Alltagsleben und die Leistungsfähigkeit von betroffenen Menschen sehr stark beeinträchtigen.
2.2.5 Auffälligkeiten des Willens (z. B. Motivationsverlust) und des Affekts (z. B. verflachter emotionaler Ausdruck)
Diese ICD-11 Krterien entsprechen weitgehend der DSM-5 Kategorie A.5 (Negativsymptome; verminderter emotionaler Ausdruck oder reduzierte Willenskraft) wie in Tabelle 2.1 (
Tab. 2.1) aufgeführt.
Unter dieser Überschrift werden Auffälligkeiten zusammengefasst, die in der Literatur häufig auch als sogenannte Negativsymptome angesprochen werden. Dieser Begriff hebt darauf ab, dass motivationale und emotionale Eigenschaften, die eine Person früher ausgemacht haben, nach Beginn der schizophrenen Symptomatik verflachen und verschwinden können. So können betroffene Personen ursprünglich lebensfroh, interessenreich, aktiv, sozial interagierend mit lebendiger Emotionalität und Schwingungsfähigkeit ausgestattet gewesen sein. Wenn sich solche Persönlichkeitseigenschaften meist schleichend über Monate langsam, aber stetig zurückbilden und der betroffene Mensch sich mehr und mehr sozial zurückzieht, aufhört sich für die Welt und die anderen Menschen zu interessieren, überhaupt alle Hobbies und Interessen mehr und mehr aufgibt und auch emotional immer weniger Auslenkungen zeigt, so wäre dies ein typisches Beispiel für die Entwicklung von Negativsymptomen. Damit ist meist eine Anhedonie verbunden, sprich die verminderte Fähigkeit, Freude und Lust an den verschiedenen kleinen und großen Dingen des Lebens zu empfinden.
All diese Symptome sind vor allem anfangs meist schwer zu erkennen, weil sie bei vielen Menschen in Phasen von Stress, Überlastung und Depression entstehen können, sich meist aber rasch wieder zurückbilden. Bei bestimmten Formen der Schizophrenie bilden sie sich dagegen nicht zurück, sondern es kommt über Monate bis Jahre zu einer Persönlichkeitsänderung insofern, als dass diese Negativsymptome prägend für das Erleben und Verhalten der betroffenen Personen werden. Negativsymptome sind vor allem initial schwerer zu erkennen wegen ihrer Unspezifität und ihres schleichenden Beginns, können aber langfristig für die soziale Prognose von Menschen mit schizophrenen Syndromen von viel weitreichenderer Bedeutung sein als die deutlich markanteren Positivsymptome (Wahn, Halluzinationen und katatone Symptome s. u.).
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