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Am Morgen erwachte ich mit derart geschärften Sinnen, dass mir sogar die grobe braune Borke der Kiefern oder das gewöhnliche Hämmern eines Spechts wie eine kleine Offenbarung vorkamen. Die lange anhaltende Mattigkeit nach dem fünftägigen Fußmarsch zum Basislager war verschwunden. War das ein Nebeneffekt der Sporen oder der tiefe Schlaf? Ich fühlte mich so erfrischt, dass es mir egal war.
Aber meine Hochstimmung wurde schnell durch eine schreckliche Neuigkeit gedämpft. Die Anthropologin war verschwunden, und mit ihr alles Persönliche aus ihrem Zelt. Das Schlimmste aber war meiner Meinung nach, dass die Psychologin aufgewühlt schien und scheinbar kaum geschlafen hatte. Sie kniff die Augen zusammen, das Haar war zerzaust. Die Sohlen ihrer Stiefel waren dreckverkrustet. Sie agierte nur mit der rechten Körperseite, als wäre sie verwundet.
»Wo ist die Anthropologin?«, wollte die Vermesserin wissen, während ich mich zurückhielt und versuchte, mir meinen eigenen Reim zu machen. Was hast du mit der Anthropologin gemacht? Das war meine unausgesprochene Frage, und ich wusste, dass sie unfair war. Die Psychologin hatte sich nicht groß verändert, sie war wie vorher; dass ich das Geheimnis ihrer Zaubertricks kannte, hieß nicht, dass sie eine Bedrohung war.
Die Psychologin trat unserer wachsenden Panik mit einer merkwürdigen Erklärung entgegen. »Ich habe gestern spät Abend mit ihr gesprochen. Was sie da in diesem … Gebäude … sah, hat sie so nervös gemacht, dass sie die Expedition nicht fortsetzen wollte. Sie hat sich auf den Rückweg gemacht. Sie hat einen vorläufigen Bericht dabei, so dass unserer Vorgesetzten wissen, wie weit wir gekommen sind.« Für ihre Angewohnheit immer im falschen Augenblick ein schmales Lächeln aufzusetzen, hätte ich sie ohrfeigen können.
»Aber sie hat ihre Ausrüstung hiergelassen – auch ihre Waffe«, sagte die Vermesserin.
»Sie hat nur mitgenommen, was sie braucht, damit wir mehr haben – auch eine weitere Waffe.«
»Glaubst du, wir brauchen eine zusätzliche Waffe?«, fragte ich die Psychologin. Ich war gespannt. In gewisser Weise war die Psychologin ebenso faszinierend wie der Turm. Ihre Motive, ihre Gründe. Warum griff sie jetzt nicht auf Hypnose zurück? Vielleicht kann man manche Dinge, trotz unserer grundlegenden Konditionierung, nicht suggerieren, oder die Suggestion wird mit jeder Wiederholung schwächer, vielleicht war die Psychologin nach den Ereignissen der letzten Nacht auch einfach zu schwach.
»Ich glaube, wir wissen nicht, was wir brauchen«, sagte die Psychologin. »Aber wir haben bestimmt keine Anthropologin gebraucht, die nicht in der Lage ist, ihren Job zu machen.«
Die Vermesserin und ich starrten die Psychologin an. Die Vermesserin hatte die Arme vor der Brust gekreuzt. Während der Ausbildung hatten wir gelernt, bei unseren Kolleginnen ganz genau auf Zeichen von mentalem Stress oder Funktionsstörungen zu achten. Vielleicht glaubte sie auch, ich würde jetzt meinen, wir hätten eine Wahl. Wir konnten die Erklärung der Psychologin für das Verschwinden der Anthropologin akzeptieren, oder auch nicht. Wenn nicht, dann sagten wir damit gleichzeitig, dass die Psychologin uns anlügen würde, und wir deshalb ihre Autorität in einer kritischen Situation nicht akzeptieren würden. Und wenn wir uns auch auf den Heimweg machen würden, in der Hoffnung, die Anthropologin einzuholen, um die Geschichte der Psychologin zu verifizieren – hätten wir danach noch die Willenskraft, zum Basislager zurückzukehren?
»Wir sollten weitermachen wie geplant«, sagte die Psychologin. »Wir sollten den … Turm erforschen.« Das Wort Turm klang in diesem Zusammenhang wie ein offensichtlicher Appell an meine Loyalität.
Die Vermesserin zögerte immer noch, als müsste sie mit den Suggestionen der Psychologin von gestern Abend kämpfen. Das alarmierte mich in anderer Hinsicht. Ich würde Area X nicht verlassen, ohne den Turm zu erforschen. Das war eine Tatsache, die ich mit jeder Faser meines Körpers spürte. Und in diesem Zusammenhang konnte ich es mir nicht leisten, so schnell ein weiteres Mitglied des Teams zu verlieren und alleine mit der Psychologin dazustehen. Nicht, wenn ich mir ihrer nicht sicher sein konnte, und nicht, wenn ich keine Ahnung hatte, welche Auswirkungen die Sporen auf mich hatten.
»Sie hat Recht«, sagte ich. »Wir sollten die Mission fortsetzen. Wir können auch ohne die Anthropologin auskommen.« Aber mein fester Blick in Richtung der Vermesserin machte uns beiden deutlich, dass wir das Thema Anthropologin später wieder aufgreifen würden.
Die Vermesserin nickte mürrisch und sah zur Seite.
Die Psychologin gab einen hörbaren Seufzer von sich, entweder aus Erleichterung oder vor Erschöpfung. »Das wäre dann geklärt«, sagte sie und hastete an der Vermesserin vorbei, um das Frühstück zu machen. Bisher hatte immer die Anthropologin das Frühstück gemacht.
Aber am Turm war die Lage schon wieder eine andere. Die Vermesserin und ich hatten die leichten Rucksäcke gepackt, genug Wasser und Nahrungsmittel, um den ganzen Tag dort unten zu verbringen. Wir hatten unsere Waffen eingepackt. Wir beide hatten Atemmasken gegen die Sporen, obwohl es bei mir schon zu spät war. Wir beide trugen Schutzhelme mit fest montierten Stirnlampen.
Aber die Psychologin stand im Gras neben dem kreisrunden Turm, ein kleines Stück hinter uns, und sagte: »Ich halte hier die Stellung und euch den Rücken frei.«
»Vor wem?«, fragte ich ungläubig. Wenn ich etwas wirklich nicht wollte, dann, die Psychologin aus den Augen zu lassen. Ich wollte, dass sie an den Risiken dieser Erkundung teilhatte und nicht oben blieb, als ein Symbol für die Macht, die sie über uns hatte.
Auch die Vermesserin war nicht glücklich. In flehendem Tonfall, der einen hohen Grad an unterdrücktem Stress verriet, sagte sie: »Du solltest mit uns kommen. Zu dritt ist es sicherer.«
»Aber ihr müsst doch sicher sein, dass der Eingang bewacht ist«, sagte die Psychologin und schob ein Magazin in ihre Pistole. Das harte Kratzgeräusch hallte stärker in meinen Ohren wider, als ich gedacht hätte.
Die Vermesserin griff das Sturmgewehr fester, und ihre Knöchel traten weiß hervor. »Du musst mit uns kommen.«
» Das Risiko lohnt sich nicht «, sagte die Psychologin, und am Tonfall erkannte ich den Hypnosebefehl.
Der Griff der Vermesserin um das Gewehr lockerte sich. Ihre Gesichtszüge verloren für einen Augenblick alle Konturen.
»Du hast Recht«, sagte die Vermesserin. »Natürlich, du hast Recht. Es macht einfach Sinn.«
Ein Anflug von Furcht rieselte mir über den Rücken. Jetzt waren es zwei gegen eine.
Ich ließ mir das kurz durch den Kopf gehen, ließ die ganze Wucht des Blicks der Psychologin auf mich wirken, die mich jetzt mit voller Aufmerksamkeit anstarrte. Albtraumartige, paranoide Szenarien gingen mir durch den Kopf. Ein versperrter Einstieg bei unserer Rückkehr, die Psychologin, wie sie uns abschoss, während wir die Hände dem freien Himmel entgegen reckten. Andererseits: Sie hätte uns in jeder Nacht der Woche umbringen können.
»So wichtig ist das nicht«, sagte ich einen Augenblick später. »Hier oben bist du für uns genauso wertvoll wie da unten.«
Und so stiegen wir, unter dem wachsamen Auge der Psychologin, hinab.
Das erste, was ich im Zwischengeschoss bemerkte, bevor wir das spiralförmige Treppenhaus nach unten betraten, um wieder auf die Worte an der Wand zu stoßen war: Der Turm atmete . Der Turm atmete , und als ich an die Wand trat, um sie zu berühren, spürte ich das Echo eines Herzschlags … und sie war nicht aus Stein, sondern aus lebendiger Materie . Diese Wand war noch immer leer, aber sie strahlte etwas silbrigweiß Phosphoreszierendes ab. Die Welt schien ins Schlingern zu geraten, und ich ließ mich schwerfällig mit dem Rücken zur Wand niedersinken, die Vermesserin war an meiner Seite und versuchte, mir wieder aufzuhelfen. Ich glaube, ich zitterte, als ich schließlich wieder auf den Beinen war. Ich weiß nicht, ob ich die Ungeheuerlichkeit dieses Augenblicks mit Worten vermitteln kann. Der Turm war in gewissem Maße ein lebendiges Wesen. Wir waren dabei, in einen Organismus hinabzusteigen .
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