1 ...8 9 10 12 13 14 ...46 Ich war überzeugt – ein Einzelkind, eine Expertin in der Nutzung der Einsamkeit –, dass meine Beobachtungen dieses Miniaturparadises sich eine Ewigkeit hätten fortsetzen können. Ich schraubte sogar notdürftig einen wasserdichten Blitz mit einer wasserdichten Kamera zusammen und plante, die Apparatur unter die dunkle Oberfläche zu versenken, Fotos mittels eines langen Drahts zu machen, den ich mit dem Auslöser verbunden hatte. Ich habe keine Ahnung, ob das funktioniert hätte, denn plötzlich war es mit dem Luxus, Zeit zu haben, vorüber. Das Glück hatte uns verlassen und wir konnten die Miete für das Haus nicht mehr bezahlen. Wir zogen in eine winzige Wohnung, vollgestopft mit den Gemälden meiner Mutter, die für mich nicht mehr als Tapete waren. Eines der großen Traumata meines Lebens war die Angst um den Pool. Würden die neuen Besitzer seine Schönheit und die Notwendigkeit erkennen, ihn so zu belassen, wie er war? Oder würden sie alles zerstören, ein unvorstellbares Massaker anrichten, nur um den Pool seiner ursprünglichen Bestimmung zuzuführen?
Ich habe es nie herausgefunden – ich konnte es nicht ertragen zurückzugehen, genauso wie ich den Reichtum dieses Ortes nie haben vergessen können. Ich konnte nichts anderes tun, als nach Vorne zu schauen, als das, was ich beim Beobachten der Bewohner des Teichs gelernt hatte, anzuwenden. Und ich habe niemals zurückgeschaut, was auch immer geschehen ist. Wenn die Finanzierung eines Projekts auslief oder das Gebiet, das wir gerade erforschten, zur Erschließung freigegeben wurde, bin ich nie wieder dorthin zurückgekehrt. Es gibt bestimmte Arten zu sterben, die man nicht noch einmal erleben sollte, und bestimmte Bindungen gehen so tief, dass man den Knacks in sich spürt, wenn sie zerbrochen werden.
Während wir weiter in den Turm vordrangen fühlte ich, seit langer Zeit zum ersten Mal, wieder jenes Hochgefühl, das ich zum ersten Mal als Kind bei meinen Entdeckungen gespürt hatte. Aber ich wartete auch auf den Knacks.
Wo liegt die alles erstickende Frucht die aus der Hand des Sünders erwuchs Ich werde die Saat der Toten gebären und mit den Würmern teilen die …
Die Turmtreppe schraubte sich vor uns ins Dunkel, ihre weißlichen Stufen wie die Zähne eines unergründlichen wilden Tiers, und wir folgten ihnen, weil uns nichts anderes übrig blieb. Zeitweise wünschte ich mir, ich hätte die bornierte Weltsicht der Vermesserin. Ich verstand jetzt, warum die Psychologin uns schützen wollte, und fragte mich, wie sie das aushalten würde, denn sie hatte niemanden, der sie beschützte … wovor auch immer.
Zunächst waren da »nur« die Worte, und das war genug. Sie tauchten auf jeweils gleicher Höhe an der linken Seite der Wand auf, und eine Zeitlang versuchte ich sie aufzuzeichnen, aber es waren so viele, die mal einen Sinn ergaben und dann wieder nicht, dass der Versuch, ihre Bedeutung zu erfassen, einem Irrweg durch ein Spiegelkabinett glich. Über eines waren die Vermesserin und ich uns sofort einig: Wir würden die physikalische Beschaffenheit der Worte dokumentieren, aber um diesen nicht enden wollenden Satz zu fotografieren bedurfte es eines weiteren Tages, einer weiteren Mission.
… mit den Würmern teilen die in der Dunkelheit sich versammeln und die Welt mit der Macht ihrer Leben umzingeln während in düsteren Gängen anderer Orte Formen die niemals waren und niemals sein durften sich mit der Ungeduld der Wenigen krümmen die nie erblickten was hätte sein können …
Die ominöse Beschaffenheit der Worte zu ignorieren rief ein Unbehagen hervor, das mit den Händen greifbar war. Es infizierte unsere eigenen Sätze, die wir miteinander wechselten, während wir versuchten, die biologische Realität dessen, was wir sahen, zu katalogisieren. Beide sahen, denn die Psychologin hatte uns damit beauftragt, die Worte und wie sie entstanden waren zu verstehen, und die physikalische Realität der Turmwände einfach zu unterdrücken war eine gewaltige und strapaziöse Aufgabe.
Auch diese Dinge erlebten wir beide, während wir zum ersten Mal in die Dunkelheit hinabstiegen: Die Luft wurde kühler, aber auch feuchter und nahm mit dem Fallen der Temperatur eine sanfte Süßlichkeit an, wie von fauligem Nektar. Wir beide sahen die winzigen, handförmigen Organismen, die zwischen den Buchstaben lebten. Die Decke war höher, als wir gedacht hatten, und im Licht der Helmleuchten konnte die Vermesserin, als wir nach oben sahen, die sich kringelnden Schlieren von Schneckenspuren erkennen. Büschel von Moos oder Flechten verteilten sich über die Decke, und winzige durchscheinende Höhlenkrebse mit kräftigen, ausgreifenden Beinen bewegten sich zwischen ihnen.
Was nur ich sehen konnte: Die Wände hoben und senkten sich präzise mit der Atmung des Turms. Die Farben der Worte wechselten mit einem Kräuseln, oszillierten wie bei einem Tintenfisch. Dass es eine geisterhafte Spur früherer Worte gab, die sich knapp zehn Zentimeter oberhalb und unterhalb der jetzigen Sätze in der gleichen Kursivschrift abzeichneten. Diese Schichten von Worten wirkten wie eine Art Wasserzeichen, denn sie waren nicht mehr als ein flüchtiger Eindruck an der Wand, ein fahler Hinweis in grün und manchmal violett, dass hier einst Buchstaben auf der Wand gewachsen waren. Die meisten schienen das aktuelle Thema zu wiederholen, einige aber auch nicht.
Während die Vermesserin Beispiele der lebendigen Worte fotografierte, las ich die Phantomworte um zu sehen, wie weit sie voneinander abwichen. Sie waren schwer zu lesen – es gab verschiedene Stränge, die sich überlappten, abbrachen und wieder einsetzten. Ich verlor einzelne Worte und Formulierungen aus den Augen. Es gab so viele von diesen geisterhaften Skripten, dass sich der Eindruck aufdrängte, das Turm-Wesen würde diese schon seit langer Zeit produzieren. Aber ohne den kleinsten Anhaltspunkt, wie lange so ein »Schreibzyklus« dauern könnte, war es unmöglich, die Jahre auch nur ungefähr zu schätzen.
Es gab noch ein weiteres kommunikatives Element an der Wand. Ich war mir nicht sicher, ob die Vermesserin es wahrnehmen konnte, und entschloss mich, das zu testen.
»Weiß du, was das hier ist?«, fragte ich sie und zeigte auf ein ineinandergreifendes Gittermuster, das ich zunächst gar nicht gesehen hatte. Es lag unter den Phantomworten, ragte oben und unten ein wenig hervor, der Wortstrang verlief etwa in der Mitte. Das Muster erinnerte vage an Skorpione, die sich mit erhobenen Schwänzen gegenüberstehen, nur um sich dann wieder aufzulösen. Mir war nicht einmal klar, ob ich etwas Sprachliches vor Augen hatte. Es hätte möglicherweise auch einfach ein dekoratives Muster sein können.
Zu meiner großen Erleichterung konnte sie es sehen. »Nein, ich weiß nicht, was das ist«, sagte sie. »Aber ich bin auch keine Expertin.«
Ich fand das irritierend, aber das hatte nichts mit ihr zu tun. Für diese Aufgabe hatte ich den falschen Kopf, und sie auch; wir brauchten eine Linguistin. Wir konnten noch eine Ewigkeit auf diese Gitterbuchstaben schauen, und mir wollte nichts Originelleres dazu einfallen, als dass sie wie sich verästelnde Steinkorallen aussahen. Die Vermesserin sah darin vielleicht so etwas wie Nebenarme eines riesiges Flusses.
Schließlich gelang es mir, eine Handvoll der Fragmente zu rekonstruieren. »Warum soll ich ruhen, wenn die Welt voller Gottlosigkeit ist.« »Gottes Liebe wird über all jenen leuchten, die die Grenzen des Duldens begreifen, und ihnen wird vergeben werden.« »Zum Dienst an einer höheren Macht erwählt.« Wenn der Hauptstrang wie eine Art düstere, unbegreifliche Predigt klang, dann schlugen die Fragmente einen verwandten Ton an, aber ohne den ausschweifenden Satzbau.
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