Ich war fasziniert von dieser Entdeckung. Ich konnte nicht aufhören, die Spur anzustarren, die Wimperkerben. Ich stellte mir vor, dass ein Lebewesen so die Neigung der Stufen ausgleichen würde, wie der Bildstabilisator in einer Kamera die Unebenheiten eines Wegs.
»Hast du jemals irgendetwas Ähnliches gesehen?«, fragte die Vermesserin.
»Nein«, antwortete ich. Mühsam verkniff ich mir eine sarkastischere Antwort. »Nein, habe ich niemals.« Bestimmte Trilobiten, Schnecken und Würmer hinterließen vage ähnliche Spuren. Ich war überzeugt, dass niemand in der Welt, die wir hinter uns gelassen hatten, jemals eine so komplexe und so großflächige Spur gesehen hatte.
»Und was ist damit ?« Die Vermesserin deutete auf eine Stufe etwas weiter oben.
Ich richtete das Licht darauf und sah etwas, das einem Stiefelabdruck im Belag ähnelte. »Nur einer unserer eigenen Stiefel.« Vergleichsweise banal. Langweilig.
Ihre Helmleuchte schaukelte von links nach rechts und wieder zurück, während sie den Kopf schüttelte. »Nein. Schau doch.«
Sie zeigte auf die Abdrücke meiner und ihrer Stiefel. Der Abdruck war von einem dritten Paar, und führte die Stufen hinauf.
»Du hast Recht«, sagte ich. »Da war noch jemand hier unten, noch gar nicht so lange her.«
Die Vermesserin fing an zu fluchen.
In diesem Augenblick dachten wir nicht daran, nach weiteren Stiefelabdrücken zu suchen.
Den Aufzeichnungen zufolge, die man uns gezeigt hatte, war der ersten Expedition nichts ungewöhnliches in Area X aufgefallen, nichts als unberührte, leere Wildnis. Nachdem die zweite und die dritte Expedition nicht zurückkehrten, und sich ihr Schicksal herumsprach, wurden die Expeditionen eine Zeitlang eingestellt. Als sie wieder aufgenommen wurden, bestanden sie aus Freiwilligen, die das ganze Risiko zumindest erahnen konnten. Seitdem waren einige Expeditionen erfolgreicher verlaufen als andere.
Die elfte Expedition hatte sich als besonders schwierig herausgestellt – und für mich persönlich schwierig auf Grund eines Umstands, bei dem ich bisher nicht ganz ehrlich war. Ich habe etwas verschwiegen.
Mein Ehemann gehörte der elften Expedition an, als Sanitäter. Er wollte nie Arzt werden, aber immer »Erste Hilfe« leisten oder mit Traumatisierten arbeiten. »Eine Triage-Krankenschwester im Außendienst«, wie er es nannte. Er war von einem Freund für Area X rekrutiert worden, der sich an ihn aus gemeinsamen Zeiten bei der Navy erinnerte, bevor mein Mann in den Sanitätsdienst wechselte. Er hatte nicht sofort ja gesagt, war sich unsicher, aber mit der Zeit hatten sie ihn überzeugt. Das führte zu häufigem Streit zwischen uns, obwohl wir bereits jede Menge Probleme miteinander hatten.
Mir ist klar, dass die Information wohl jedermann zugänglich ist, aber ich habe gehofft, dass Sie mich beim Lesen dieses Berichts für eine zuverlässige, objektive Zeugin halten. Nicht für jemanden, der sich auf Grund von anderen Ereignissen für Area X gemeldet hat, die mit dem unmittelbaren Zweck der Expedition nichts zu tun haben. In gewisser Weise stimmt das immer noch, und dass mein Mann Mitglied einer Expedition war, hat in vielerlei Hinsicht nichts mit den Gründen zu tun, aus denen ich angeheuert habe.
Aber wie hätte mich Area X auch kalt lassen sollen, und sei es nur wegen ihm? Eines Abends, etwa ein Jahr, nachdem er zur Grenze aufgebrochen war, lag ich alleine im Bett und hörte jemanden in der Küche. Bewaffnet mit einem Baseballschläger verließ ich das Schlafzimmer und machte überall im Haus die Lichter an. Ich fand meinen Mann neben dem Kühlschrank in voller Expeditionsmontur, wie er Milch trank, bis sie ihm über Kinn und Hals rann; allerlei Reste in sich hineinstopfte, als hätte er seit Monaten nichts Richtiges zu essen bekommen.
Ich war sprachlos. Ich konnte ihn nur anstarren, als wäre er eine Erscheinung, die sich bei einem Wort oder einer Bewegung meinerseits in Luft auflösen würde.
Dann saßen wir im Wohnzimmer, er auf dem Sofa und ich in einem Sessel, ihm gegenüber. Ich brauchte etwas Abstand von dieser plötzlichen Erscheinung. Er wusste nicht, wie er aus Area X herausgekommen war, hatte keinerlei Erinnerungen an den Rückweg nach Hause. An die Expedition selbst konnte er sich nur noch sehr vage erinnern. Er strahlte eine merkwürdige Ruhe aus, die nur von Momenten leichter Panik bei allen Fragen durchbrochen wurde, die ich ihm über die Geschehnisse stellte; dann merkte er, dass er einen unnatürlichen Gedächtnisverlust erlitten hatte. Offenbar erinnerte er sich auch nicht mehr daran, dass unsere Ehe schon dabei war in die Brüche zu gehen, bevor wir anfingen, uns über seinen Aufbruch nach Area X zu streiten. Er zeigte jetzt genau jene Distanziertheit, die er in der Vergangenheit mir mal mehr, mal weniger dezent vorgeworfen hatte.
Nach einer Weile konnte ich es nicht länger ertragen. Ich schickte ihn unter die Dusche, führte ihn dann zum Schlafzimmer, zog ihn aus, legte ihn unter mich und liebte ihn. Ich versuchte, Überreste des Mannes zurückzuholen, an den ich mich erinnerte, der Mann, der – so ganz anders als ich – kontaktfreudig und leidenschaftlich war und sich immer nützlich machen wollte. Der Mann, der ein begeisterter Freizeitsegler war und zwei Wochen im Jahr mit ein paar Freunden in Richtung Küste verschwand, um zu segeln. Nichts von all dem fand ich jetzt in ihm wieder.
Die ganze Zeit, die er in mir steckte, schaute er mit einem Ausdruck zu mir auf, der mir sagte, dass er sich an mich erinnerte, aber nur wie durch eine Art Nebel. Trotzdem half mir das eine Zeitlang. Es machte ihn realer, jedenfalls konnte ich mir das einreden.
Aber nur eine Zeitlang. Er war nur für vierundzwanzig Stunden wieder in mein Leben getreten. Sie holten ihn am nächsten Abend, und nachdem ich erst einmal die langatmige Sicherheitsüberprüfung durchlaufen hatte, besuchte ich ihn in der Einrichtung, wo er unter Beobachtung stand, bis zum Ende. Jener antiseptische Ort, an dem sie ihn immer wieder Tests unterzogen und erfolglos versuchten, hinter seine Gelassenheit und den Gedächtnisverlust zu kommen. Er begrüßte mich wie eine alte Freundin – ein Rettungsanker, der seiner Existenz einen Sinn verlieh –, aber nicht wie eine Geliebte. Ich gestehe, dass ich dorthin ging, weil ich hoffte, noch einen Funken jenes Mannes zu wiederzufinden, den ich einmal gekannt hatte. Aber ich fand ihn nicht. Selbst an dem Tag, als mir gesagt wurde, er sei an einem inoperablen, im ganzen Körper verteilten Krebs erkrankt, starrte mich mein Ehemann mit einem leicht verwirrten Gesichtsausdruck an.
Sechs Monate später war er tot. Während der ganzen Zeit gelang es mir nicht, hinter die Maske vorzudringen, zu dem Mann vorzustoßen, der er einmal gewesen war. Nicht durch unser persönliches Zusammenkommen, auch nicht, indem ich schließlich die Befragungen beobachtete, denen er und die anderen Mitglieder des Teams unterzogen wurden. Alle starben an Krebs.
Was auch immer in Area X passiert war, er war nicht zurückgekommen. Nicht wirklich.
Wir gingen sogar noch weiter, tiefer hinab ins Dunkel, und ich konnte nicht umhin mich zu fragen, ob auch mein Mann dies alles erlebt hatte. Ich wusste nicht, ob meine Infektion alles veränderte. Waren wir auf der gleichen Reise, oder hatte er etwas komplett anderes vorgefunden? Falls gleich, wie anders hatte er reagiert, und hätte das etwas an dem geändert, was als nächstes geschah?
Der Schleim auf dem Weg wurde dicker, und wir konnten jetzt erkennen, dass die roten Flecken lebende Organismen waren, weil sie aus irgendetwas Darunterliegendem kamen, denn sie schlängelten sich durch die zähflüssige Schicht. Die Farbe der Substanz wurde intensiver, so dass sie an einen funkelnden goldenen Teppich erinnerte, der vor uns ausgerollt war, um uns den Weg zu einem merkwürdigen, aber großartigen Bankett zu weisen.
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