Ein Dutzend weitere Stufen nach oben, wo man die tote Anthropologin gerade noch im Blick hatte, fand ich zwei Paar Stiefelabdrücke, die sich gegenüber standen. Eines gehörte zur Anthropologin. Das andere weder zu mir, noch zu der Vermesserin.
Plötzlich passten die Puzzleteile zueinander und ich sah vor meinem inneren Auge, wie sich alles abgespielt hatte. Mitten in der Nacht hatte die Psychologin die Anthropologin geweckt, sie unter Hypnose gesetzt und war mit ihr zusammen zum Turm gegangen und bis hierher mit ihr hinabgestiegen. Genau hier hatte die Psychologin der Anthropologin einen weiteren hypnotischen Befehl gegeben, von dem sie möglicherweise wusste, dass er auf etwas Selbstmörderisches hinauslief, und die Anthropologin war direkt auf das Ding losgegangen, das die Worte auf die Wand schrieb und hatte versucht, eine Probe zu nehmen – und war dabei umgekommen, wahrscheinlich qualvoll. Dann war die Psychologin geflohen, und deshalb fand ich keine Abdrücke ihrer Stiefel, als ich wieder nach unten ging.
War es Mitleid oder Mitgefühl, was ich für die Anthropologin empfand? Machtlos, in der Falle, ohne Ausweg.
Die Vermesserin wartete ängstlich auf mich. »Und, was hast du gefunden?«
»Die Anthropologin war nicht alleine hier unten.« Ich berichtete ihr meine Theorie.
»Aber warum sollte die Psychologin so etwas tun?«, fragte sie mich. »Wir wollten doch zusammen am Morgen sowieso wieder hierher kommen?«
Ich hatte das Gefühl, die Vermesserin durch das falsche Ende eines Fernglases anzusehen.
»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich, »aber sie hat uns alle hypnotisiert, und nicht nur, damit wir im Kopf klar bleiben. Vielleicht dient diese Expedition noch anderen, uns unbekannten Zwecken.«
»Hypnose.« Sie sagte das Wort dahin, als sei es ohne Bedeutung. »Woher weißt du das? Mit dem Hypnotisieren.« Die Vermesserin schien sich zu ärgern – ob über mich oder meine Theorie konnte ich nicht sagen. Ich konnte aber verstehen, warum.
»Weil ich irgendwie dagegen immun geworden bin. Sie hat dich heute hypnotisiert, bevor wir hier runter gegangen sind, um ganz sicher zu sein, dass du deine Pflicht erfüllst. Ich war dabei, ich habe es gesehen.« Ich wollte der Vermesserin alles beichten – ihr erzählen, wie ich immun geworden bin, hielt das aber für einen Fehler.
»Und du hast nichts unternommen? Falls das nicht gelogen ist.« Zumindest hielt sie es nicht für völlig abwegig, dass ich die Wahrheit gesagt hatte. Vielleicht hatte sie doch noch eine verschwommene Resterinnerung an das Geschehen.
»Ich wollte nicht, dass die Psychologin merkt, dass sie mich nicht hypnotisieren kann.« Und ich wollte hier herunter kommen.
Die Vermesserin ließ sich das durch den Kopf gehen.
»Glaub mir, oder glaub mir nicht«, sagte ich. »Aber eines kannst du mir glauben: Wenn wir wieder oben sind, müssen wir mit allem rechnen. Vielleicht müssen wir die Psychologin unter Arrest stellen oder sogar töten, weil wir nicht wissen, was sie vorhat.«
»Was sollte sie schon vorhaben?«, fragte die Vermesserin. War das Verachtung in ihrer Stimme, oder bekam sie es wieder mit der Angst zu tun?
»Weil sie andere Befehle als wir bekommen haben muss«, sagte ich, als würde ich es einem Kind erklären.
Darauf antwortete sie nicht, und ich nahm das als Zeichen, dass sie sich mit der Idee anfreundete.
»Ich muss vorgehen, weil sie mich nicht beeinflussen kann. Und du musst die hier tragen. Vielleicht hilft das, dem nächsten Hypnosebefehl entgegenzuwirken.« Ich gab ihr mein zweites Paar Ohrstöpsel.
Sie nahm sie zögernd. »Nein«, sagte sie. »Wir gehen zusammen da hoch, gleichzeitig.«
»Das ist nicht vernünftig«, sagte ich.
»Das ist mir völlig egal. Du gehst jedenfalls nicht ohne mich nach oben. Ich warte nicht hier unten im Dunklen, bis du alles in Ordnung gebracht hast.«
Ich dachte einen Moment darüber nach und sagte dann: »In Ordnung. Aber wenn ich sehe, dass sie dich zu etwas zwingen will, dann werde ich sie davon abhalten.« Oder es zumindest versuchen.
»Falls du Recht hast«, sagte die Vermesserin. »Falls du die Wahrheit sagst.«
»Sage ich.«
Sie ignorierte meine Antwort. »Was machen wir mit dem Körper?«
Hieß das, wir waren uns einig? Ich hoffte es. Vielleicht würde sie auch versuchen, mich auf dem Weg nach oben zu entwaffnen. Vielleicht hatte die Psychologin sie schon diesbezüglich instruiert?
»Wir lassen die Anthropologin hier. Wir können uns nicht mit ihr belasten, und wir wissen auch nicht, welche Kontaminanten wir mit ihr nach oben bringen.«
Die Vermesserin nickte. Zumindest war sie nicht sentimental. Dieser Körper hatte mit der Anthropologin nichts mehr zu tun, das war uns beiden klar. Ich musste mich sehr anstrengen, nicht an die letzten Minuten der Anthropologin zu denken, den Horror, den sie bei der Ausführung einer Aufgabe empfunden haben musste, die ihr jemand anderes aufgezwungen hatte, und die ihren Tod bedeutete. Was hatte sie gesehen? Worauf hatte sie geschaut, bevor alles dunkel wurde?
Ehe wir uns auf den Rückweg machten, nahm ich noch eines der Glasröhrchen, die um die Anthropologin verstreut lagen. Es enthielt Spuren einer dicken, fleischartigen Substanz, die dunkelgolden schimmerte. Vielleicht hatte sie, kurz vor ihrem Ende, doch noch eine brauchbare Probe eingesammelt.
Während wir dem Licht entgegenstiegen, versuchte ich mich abzulenken. Immer wieder ging ich alle Stationen unserer Ausbildung durch, um einen Hinweis, einen Fetzen Information zu finden, der irgendeine Erklärung dessen bot, was wir entdeckt hatten. Aber mir fiel nichts ein und ich konnte nur über meine Gutgläubigkeit staunen, dass man uns überhaupt irgendetwas von Nutzen beigebracht hatte. Man hatte immer betont, wie wichtig unsere jeweiligen Fähigkeiten und unser Grundlagenwissen seien. Aber im Rückblick sehe ich deutlich, wie wir willentlich im Unklaren gelassen oder irregeleitet wurden, und das unter dem Vorwand, wir sollten keine Angst haben oder uns überfordert fühlen.
Die Karte war das erste Mittel zur Irreführung gewesen, denn was war eine Landkarte wert, die bestimmte Dinge herausstellte, andere aber verheimlichte? Immer wieder hatte man uns auf die Karte verwiesen, deren Details wir auswendig lernen sollten. Unser namenloser Ausbilder hatte mit uns sechs Monate lang die Lage des Leuchtturms im Verhältnis zum Basiscamp gepaukt, die Kilometer zwischen dem einen Flecken verfallener Häuser bis zum nächsten. Die Länge des Küstenstreifens, den wir erkunden sollten. Und fast immer in Bezug auf den Leuchtturm, nicht das Basislager. Wir fühlten uns so wohl mit der Karte, mit ihren Dimensionen und dem Gedanken, was darauf alles verzeichnet war, dass wir gar nicht auf die Idee kamen zu fragen, warum oder was .
Warum dieser Teil des Küstenstreifens? Was würden wir im Leuchtturm finden? Warum befand sich das Lager im Wald, weit entfernt vom Leuchtturm, aber nahe am Turm (der auf der Karte natürlich nicht verzeichnet war) – und war das Lager schon immer hier gewesen? Was befand sich jenseits der Karte? Da ich jetzt um das Ausmaß der hypnotischen Befehle wusste, wurde mir klar, dass die Konzentration auf die Karte vielleicht selbst ein verkappter Fingerzeig sein mochte. Dass wir keine Fragen stellten, weil wir programmiert waren, keine Fragen zu stellen. Dass der Leuchtturm, sei es nun stellvertretend oder tatsächlich, möglicherweise der unbewusste Auslöser für einen hypnotischen Befehl war? War er vielleicht das Epizentrum dessen, was sich ausgebreitet und zu Area X geworden war?
Meine Einweisung in die Ökologie des Gebiets war ähnlich borniert verlaufen. Den größten Teil der Zeit hatte ich mich mit der Natur eines Ökosystems im Übergang vertraut gemacht, mit Flora und Fauna und der Bestäubung verschiedener Pflanzen untereinander, mit der ich wohl rechnen musste. Ich hatte aber auch einen intensiven Auffrischungskurs über Pilze und Flechten mitgemacht, und im Lichte dessen, was wir an den Wänden des Turms vorgefunden hatten, schien dieser sich jetzt als wahrer Kern meiner Studien herauszustellen. Wenn die Karte ein reines Ablenkungsmanöver sein sollte, dann waren die ökologischen Forschungsarbeiten im Grunde genommen meine eigentliche Vorbereitung. Es sei denn, ich hatte paranoide Wahnvorstellungen. Aber wenn nicht, dann hieß das, dass sie von dem Turm wussten, vielleicht schon immer davon gewusst hatten.
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