»Sollen wir zurückgehen?«, fragte mal die Vermesserin, mal ich.
Und die andere antwortete: »Nur noch um die nächste Ecke. Nur noch ein bisschen weiter, und dann gehen wir zurück.« Es war ein Test für unser fragiles Vertrauensverhältnis. Es war ein Test unserer Neugier und Faszination, die Seite an Seite mit unserer Angst einhergingen. Ein Test, ob wir es vorzogen, unwissend zu bleiben oder uns einer Gefahr auszusetzen. Das Gefühl an unseren Stiefeln, die wir vorsichtig Schritt für Schritt durch den zähflüssigen Belag schoben, die Art, in der die Schwüle uns Probleme bereitete, während wir uns mühsam vorwärts bewegten, würde schließlich zur Bewegungsunfähigkeit führen, das war uns klar. Wenn wir es zu weit trieben.
Aber dann verschwand die Vermesserin um die nächste Ecke, nur um gleich wieder in mich hineinzuprallen und mich die Stufen hochzuschieben. Ich ließ es zu.
»Da unten ist irgendwas auf den Stufen«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Etwas wie ein Körper oder ein Mensch.«
Ich verzichtete auf den Hinweis, dass ein Körper auch ein Mensch sein könne. »Schreibt es Worte an die Wand?«
»Nein – zusammengesackt an der Wand.« Ihr Atem unter der Maske ging schnell und flach.
»Ein Mann oder eine Frau?«, fragte ich.
»Ich glaube , es ist ein Mensch«, ignorierte sie meine Frage. »Ich glaube, es ist ein Mensch. Glaube ich.« Körper waren eine Sache; aber keine Ausbildung bereitet dich darauf vor, einem Monster gegenüberzutreten.
Aber wir konnten den Turm nicht wieder verlassen, ohne zunächst dieses neue Geheimnis zu untersuchen. Wir konnten einfach nicht. Ich nahm sie bei den Schulter und sah ihr direkt in die Augen. »Du sagst, es sieht wie jemand aus, der an die Wand gelehnt sitzt. Das hat nichts mit den Spuren zu tun, die wir verfolgen. Das sind die anderen Stiefelabdrücke . Das weißt du doch. Was immer das ist, wir können riskieren, es uns anzusehen, und dann gehen wir zurück nach oben. Wir gehen nicht weiter, egal was wir finden, das verspreche ich dir.«
Die Vermesserin nickte. Die Vorstellung, dass es nicht weiter nach unten ging reichte aus, um sie zu beruhigen. Nur noch diese eine Sache durchstehen, und dann siehst du bald die Sonne wieder .
Wir gingen zurück nach unten. Die Stufen schienen jetzt besonders glitschig zu sein, obwohl es auch an unserem Zittern liegen konnte, und wir gingen langsam und stützten uns an der leeren, rechten Seite der Wand ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der Turm schwieg, hielt den Atem an, sein Herzschlag hatte sich plötzlich verlangsamt und kam wie aus weiter Ferne, aber vielleicht übertönte das Rauschen des Bluts in meinem Kopf auch einfach alles andere.
Als ich um die Ecke kam, sah ich die Gestalt und richtete mein Helmlicht auf sie. Ich musste das sofort tun, denn nur einen Augenblick später hätte mich der Mut schon verlassen. Es war der Körper der Anthropologin, der an der linken Wand zusammengesackt war, die Hände lagen in ihrem Schoß, der Kopf nach vorne geneigt wie im Gebet, etwas Grünes quoll aus ihrem Mund. Ihre Kleidung schien merkwürdig flockig, verschwommen. Ein schwacher goldener Schimmer umspielte ihren Körper, kaum wahrnehmbar; ich konnte mir vorstellen, dass die Vermesserin ihn überhaupt nicht bemerkte. Völlig unvorstellbar, dass die Anthropologin noch lebte. Die Psychologin hat uns belogen , dieser eine Gedanke beherrschte mich, und plötzlich bekam die Vorstellung, dass sie weit oben über uns den Eingang bewachte, eine unerträglich Schwere.
Ich streckte der Vermesserin eine Handfläche entgegen und bedeutete ihr so zu bleiben, wo sie war, nämlich hinter mir, und ging dann weiter voran in die Dunkelheit. Ich ging weit genug an dem Körper vorbei, um sicherzustellen, dass die Stufen unter ihm leer waren, und eilte dann zurück zur Anthropologin.
»Pass auf, während ich sie mir anschaue«, zischte ich der Vermesserin zu. Ich sagte ihr nicht, dass ich ein ganz schwaches Echo von irgendwas gespürt hatte, viel tiefer unten, das sich langsam bewegte.
» Ist es ein Körper?«, sagte die Vermesserin. Vielleicht hatte sie etwas viel Merkwürdigeres erwartet. Vielleicht dachte sie auch, die Gestalt würde einfach nur schlafen.
»Es ist die Anthropologin«, sagte ich und sah, wie sich ihre Schultern bei dieser Information verkrampften. Ohne ein Wort zu verlieren, hastete sie an mir vorbei und bezog gleich hinter dem Körper Position, das Sturmgewehr im Anschlag Richtung Dunkel.
Behutsam kniete ich neben der Anthropologin nieder. Von ihrem Gesicht war nicht mehr viel übrig, die verbliebene Haut war von merkwürdigen Brandmalen überzogen. Aus ihrem gebrochenen Kiefer, der aussah, als hätte ihn jemand brutal aufgerissen, ergoss sich ein Schwall grüner Asche, der auf der Brust einen Hügel gebildet hatte. Ihre Hände lagen mit den Handflächen nach oben in ihrem Schoß, sie waren bar jeglicher Haut, nur von einer Art hauchdünner Fäden und mehr Brandmalen überzogen. Die Beine schienen wie miteinander verschweißt und halb zerschmolzen, ein Stiefel war gegen die Wand geflogen und der andere fehlte. Um die Anthropologin herum lagen einige Probenröhrchen verstreut, wie ich sie auch mit mir führte. Ihr schwarzes Kästchen lag zertreten weit entfernt von ihrem Körper. Ihre Waffe konnte ich nirgends entdecken.
»Was ist bloß mit ihr passiert?«, flüsterte die Vermesserin. Sie warf mir nervöse Blicke zu, so als wäre das, was passiert war, noch nicht zu Ende. Als würde sie erwarten, dass die Anthropologin wieder zu einer entsetzlichen Lebendigkeit erwachen würde.
Ich antwortete nicht. Mehr als ein Ich habe keine Ahnung hätte ich nicht herausgebracht, ein Satz, der zu einer Art Beweis unserer Ignoranz oder Inkompetenz zu werden schien. Oder beides.
Ich leuchtete mit meiner Lampe die Wand oberhalb der Anthropologin aus. In einem größeren Bereich wurde die Schrift unregelmäßig, brach nach oben oder unten aus, bevor sie wieder ins Gleichgewicht geriet.
… die Schatten des Abgrunds sind wie die Blätter einer monströsen Blume die aus dem Schädel erblüht und den Geist über alles hinaus weitet, was ein Mensch ertragen kann …
»Ich glaube, sie hat den Schöpfer der Wandtexte bei seiner Arbeit gestört«, sagte ich.
»Und er hat ihr das angetan?« Sie bettelte geradezu darum, dass ich eine andere Erklärung fand.
Aber ich hatte keine, und so antwortete ich nicht, ging nur wieder dazu über, mir alles genau anzusehen, während sie weiterhin dastand und mich beobachtete.
Eine Biologin ist keine Kriminalbeamtin, aber ich begann wie eine zu denken. Ich musterte den gesamten Boden, erkannte meine Fußabdrücke und die der Vermesserin. Die ursprünglichen Abdrücke waren durch unsere undeutlicher geworden, aber es gab noch Spuren davon. Zunächst einmal, das Ding – und was auch immer die Vermesserin sich erhoffte, ich sah da nichts Menschliches am Werk – hatte sich offenbar in einer Art Raserei herumgedreht. Anstelle der weichen gleitenden Spuren formte der Belag eine Art rechtsdrehenden Wirbel, die Abdrücke der »Füße« (ich stellte sie mir als solche vor) waren jetzt plötzlich länglicher und lagen näher zusammen. Aber mitten auf diesem Wirbel konnte ich Stiefelabdrücke erkennen. Ich holte mir den einzelnen Stiefel und ging vorsichtig um dieses Indiz eines Zusammentreffen herum. Die Stiefelabdrücke in der Mitte des Wirbels stammten tatsächlich von der Anthropologin – und ich konnte weiteren teilweise unvollständigen Abdrücken bis hinten zum rechten Teil der Wand folgen, als ob sie diese umarmt hätte.
Langsam begann sich ein Bild in meinem Kopf zusammenzusetzen, von der Anthropologin, die in die Dunkelheit hinunterkroch, um den Schöpfer der Schrift zu beobachten. Die glitzernden, um sie herum verstreuten Glasröhrchen ließen mich vermuten, dass sie wohl gehofft hatte, Proben nehmen zu können. Aber wie irrwitzig oder blind war das! Welch ein Risiko war sie eingegangen, und die Anthropologin war mir nie besonders impulsiv oder mutig vorgekommen. Ich stand dort einen Augenblick, dann verfolgte ich die Spuren zurück auf die Treppe und bedeutete der Vermesserin, auf ihrem Posten zu bleiben, sehr zu ihrer Bestürzung. Vielleicht wäre sie ruhiger gewesen, wenn es tatsächlich ein Ziel für ihr Sturmgewehr gegeben hätte, aber wir waren allein mit dem, was sich in unserer Phantasie abspielte.
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