Sie stand wie immer vorne beim Fahrer und unterhielt sich mit ihm, obwohl ein Schild das ausdrücklich verbot. Sie trug einen Jeansrock, der so kurz war, dass man beinahe ihre Unterhose sah, und rote Lackstiefel mit Plateausohlen. Ihr ärmelloses Oberteil war aus schwarzem Samt, aber für meine Zwecke war nur wichtig, was sich darunter abzeichnete. Sie hatte schon Busen. Ich verwendete das Wort im Plural. Es waren schließlich zwei. Ihre Busen waren kleiner als die meiner Mutter, aber groß genug, dass das Mädchen der Star im Schulbus war.
Es war mir egal, dass ich schon wieder beim Watten verlor – ein paar Wochen später sollte ich entdecken, dass Hitler und Rudi ihre Karten gezinkt hatten. Jetzt ging es nur darum, dass ich den richtigen Augenblick erwischte. Mindestens einer auf unserer Bank, am besten Hans-Jürgen, musste gerade zu mir schauen. Das war leicht, beim Kartenspielen sah man sich ja ständig an. Dann musste ich sie unmittelbar vor dem Moment erwischen, in dem sie sich wie üblich umdrehte, um mit überlegenem Lächeln zu kontrollieren, ob auch alle im Bus sahen, dass sie verbotenerweise mit dem Fahrer redete. Ich durfte keine Zehntelsekunde zu spät dran sein, sonst würde sie sehen, was ich tat, und mich möglicherweise beim Aussteigen zur Rede stellen. Wahrscheinlich würde sie mich als Pimpf beschimpfen, bei einem 1.45 Meter großen Sechstklässler konnte sie gar nicht anders.
Meine Absicht war es, bei Hans-Jürgen und vielleicht auch den beiden Allachern den Eindruck zu erwecken, dass sie und ich einen verschwörerischen Blick gewechselt hatten, bevor sie sich wieder wegdrehte.
Meine Hand mit den Karten zitterte, mein Mund wurde trocken, trotzdem reagierte ich blitzschnell, als ich bei ihr das erste Anzeichen einer Bewegung wahrnahm. Ich zwinkerte ihr zu und hob verstohlen die Hand zum Gruß. Hans-Jürgen sah es und blickte erstaunt zu ihr . Als ihr Kontrollblick die letzte Bank erreichte, war ich schon wieder in meine Karten vertieft.
»Sag mal, kennst du die?«, fragte Hans-Jürgen.
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich hab doch gesehen, wie du ihr zugezwinkert hast. Und sie hat gelächelt.«
Es hatte geklappt! Ich wurde für meinen schlauen Plan und die präzise Vorbereitung belohnt. Danke, lieber Gott, danke, heilige Maria Muttergottes, danke Strauß.
»Wer hat wem zugezwinkert?«, fragte Hitler.
Ich zuckte unschuldig die Achseln.
»Der Gillitzer dem heißen Feger da vorne.«
»Hat er was mit der?«
»Frag ihn doch selber.«
Ich ließ Hitler warten. Inzwischen hatten sich die Schüler in den Reihen vor uns umgedreht.
Hitler riss mir die Karten aus der Hand.
»He, red!«
Ich seufzte.
»Es darf doch niemand wissen.«
»Was?«
»Ja, dass sie und ich …«
»Du … du gehst mit ihr?«, stotterte Hans-Jürgen.
»Bitte, schwört, dass ihr es keinem sagt!«
Ich wusste, dass es nichts Besseres als einen Schwur gab, wenn man sicher sein wollte, dass sich ein Gerücht schnell verbreitete.
»Wieso … nicht?«, sagte Hans-Jürgen.
»Sie will es nicht.«
»Aber«, sagte Hitler, »die könnte doch glatt den Busfahrer haben.«
»Ja, eben«, sagte ich.
»Wieso geht sie dann ausgerechnet mit dir?«
Hans-Jürgen hatte vor Aufregung einen roten Kopf bekommen.
»Entweder sie ist pervers oder der Gillitzer kann ein Kunststück«, sagte Rudi.
Ich wusste zwar nicht, was er damit meinte, lachte zur Sicherheit aber genauso dreckig wie er. Als sie am Mädchengymnasium ausstieg und ihren Blick zum Abschied noch einmal schweifen ließ, hatte ich wieder Glück und erwischte den richtigen Zeitpunkt. Ich winkte einen winzigen Moment, bevor sie es hätte bemerken können. Bei meinen Freunden verflogen die letzten Zweifel.
»Und wie heißt sie?«, erkundigte Rudi sich.
Ich weiß nicht, wieso mir Uschi Obermaier einfiel, über die mein Vater mal gesagt hatte: »So hübsch wie versaut. Aber was muss eine aus Sendling auch nach Berlin gehen?« Jedenfalls taufte ich sie Uschi.
Nun war ich also mit Uschi zusammen. Dank Hans-Jürgen verbreitete sich die Neuigkeit an der Schule wie ein Lauffeuer. Im Pausenhof standen überall tuschelnde Grüppchen. Ich hörte »Uschi«, »Uschi«, immer wieder »Uschi«. Zum ersten Mal seit einem Weitsprung in der Fünften, bei dem mich eine wundersame Kraft – damals hatte ich meinen Schutzengel in Verdacht – ein einziges Mal weiter als alle Konkurrenten getragen hatte, erlebte ich wieder eine allgemeine Bewunderung. Ich genoss die verstohlenen, anerkennenden und neidischen Blicke. Nur Hetti schaute so finster, als wäre ich an diesem Tag endgültig der Unzucht überführt worden (von der ich immer noch nicht genau wusste, worum es sich handelte).
Es gab natürlich auch Zweifler, die mir nicht zutrauten, dass ausgerechnet ich jetzt auch mit einer ging, noch dazu mit so einer. Zwei wollten mit eigenen Augen sehen, was an der Geschichte dran war, und fuhren mittags in meinem Schulbus mit, obwohl sie ganz woanders wohnten. Ihre kontrollierenden Blicke setzten mich unter Druck, und prompt versagte ich. Uschi drehte sich zwar wie immer in meine Richtung, aber ich war mit dem Zwinkern zu spät dran. Das heißt, ich wäre zu spät dran gewesen und zwinkerte zur Sicherheit lieber nicht. Da es nicht das geringste Anzeichen einer Verbindung zwischen Uschi und mir gab, begannen meine Kontrolleure bald hämisch zu grinsen. War es das schon wieder mit meinem Ruhm? Würde die kurze Zeit der Bewunderung erbarmungslosem Spott weichen? Sollte ich wieder der werden, der nur dann interessant war, wenn er den ekligen Abfalleimer säuberte oder sich beim Kartenspiel abziehen ließ?
Ich musste dringend etwas tun. Aber was? Nach vorne rennen und nach ihrer Hand greifen? Sie hätte sicher geschrien, und der Busfahrer mich wahrscheinlich rausgeworfen. Sollte ich laut »Uschi« rufen und ihr winken? Sie hieß ziemlich sicher nicht so, würde nicht reagieren, und alle würden mich für verrückt halten.
»Wir müssen raus«, sagte Hans-Jürgen.
Ich schüttelte den Kopf.
»Doch.«
Ich weiß nicht, wer aus mir sprach. Es war meine Stimme, aber nicht meine Idee.
»Ich gehe noch mit zu Uschi. Aber, bitte, verratet mich nicht.«
Das sagte ich so laut, dass es auch meine Kontrolleure hörten. Ich blieb sitzen, als Hans-Jürgen ausstieg, und genoss das ungläubige Staunen um mich herum. Als Uschi sich drei Haltestellen weiter vom Fahrer verabschiedete, stand ich in aller Ruhe auf. Sie verließ den Bus durch die vordere, ich durch die hintere Tür. Ich folgte ihr in drei Metern Abstand. Ich hatte den Allachern, sodass es alle hören konnten, noch erklärt, dass Uschi mich sofort verlassen würde, wenn jemand sah, dass wir miteinander gingen – deswegen der Abstand. Im Bus war es die Sensation schlechthin, dass einer in meinem Alter von einem Mädchen mit nach Hause genommen wurde. Normalerweise musste man dafür mindestens achtzehn sein, wenn nicht einundzwanzig. Als der Bus an Uschi und mir vorbeifuhr, schauten alle Köpfe in unsere Richtung. Vor allem meine Kontrolleure bekamen die Münder vor Staunen nicht zu.
Wir befanden uns in einem Teil von Untermenzing, wo es noch einen Bauernhof gab, aus dem einige Jahre später der Einrichtungsladen Würmwohnen werden sollte, benannt nach dem Flüsschen, das den Münchner Westen durchteilte. Uschi bog in einen Fußweg ein. Weil der Bus noch in Sichtweite war, ging ich schneller, als wollte ich zu ihr aufschließen. Sobald uns niemand mehr sah, machte ich auf dem Absatz kehrt. Ich hatte einen Fußmarsch von einer knappen Stunde vor mir, aber mein Glücksgefühl ließ mich nach Hause schweben.
Dank Uschi gehörte ich auf einmal zu den drei angesehensten Schülern der gesamten Unterstufe. Die anderen waren ein Bub in der Parallelklasse, von dem es hieß, er spiele Klavier wie der junge Mozart, und ein dreizehnjähriges Mädchen, das unter dem Einsatz ihres Lebens einen Welpen vor dem Ertrinken gerettet hatte. Plötzlich wollten alle mit mir befreundet sein – außer Hetti, die zu stolz war, um sich bei mir anzubiedern. Doch für Freundschaften blieb mir leider keine Zeit. Uschi hatte große Probleme in der Schule, und ich musste ihr in fast allen Fächern Nachhilfe geben. Außerdem war sie rasend eifersüchtig und drehte durch, wenn ich mich mal zwei Nachmittage hintereinander nicht bei ihr blicken ließ. Dafür kochte sie regelmäßig die wunderbarsten Gerichte für mich, weil sie mich für zu dünn hielt. Ich habe nie mehr so gutes Miracoli mit Streukäse bekommen wie bei den Besuchen bei ihr, über die ich gern ausführlich berichtete. Bald konnte ich jedes Zimmer ihrer Wohnung beschreiben. Bei meinen Klassenkameraden, die jeden Morgen auf die neuesten Uschi-Geschichten warteten, stieß besonders das Badezimmer auf großes Interesse. Das musste Uschi nur mit ihrer Mutter teilen, denn ihr Vater, ein Offizier, war bei einem Manöver betrunken unter einen Panzer geraten (von einem solchen Unglück während seiner Bundeswehrzeit hatte mein Vater mal erzählt).
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