Ich hob den Hörer und wählte die Nummer der Glebe Academy. Dieselbe nette Frau wie gestern ging an den Apparat. John Strachan sei noch im Unterricht, sie wolle ihn aber holen. Während ich wartete, überlegte ich, dass ich mehr über diesen verschlossenen Raum in Scotts Leben erfahren musste, in den ich dank Katie einen kurzen Blick hatte werfen dürfen. Wenn ich nicht durch die Tür kam, vielleicht kam ich durchs Fenster. Im Gespräch mit John Strachan würde ich vorsichtig sein müssen, denn ich war nicht sicher, was er wusste. Ich war nicht einmal sicher, was ich wusste. Annäherung über Umwege.
»Hallo?«
»Hallo, John. Hier ist Jack Laidlaw.«
»Hallo, Jack.«
Ein Kneipenbesuch mästet Intimität.
»Verzeihung, dass ich schon wieder störe und dich aus dem Unterricht reiße.«
»Kein Problem. Die Klasse ist mehr oder weniger zivilisiert, trotzdem hoffe ich, der Saal steht noch, wenn ich wieder zurückkomme.«
»Es geht um …« Etwas, auf das ich erst langsam hinarbeiten muss. Also, lass mich meine Spuren verwischen, indem ich sage … »ich habe mich gefragt, ob Scott nicht noch ein paar Sachen in der Schule gelassen hat. Ich meine, er hat ja nicht gewusst, dass er nicht mehr wiederkommt. Ich dachte an Papiere und solche Sachen. Etwas, das mir helfen könnte, zu verstehen, was ihn zum Schluss umgetrieben hat.«
»Kann sein.«
»Wahrscheinlich macht es viel Mühe, aber ob du wohl für mich nachsehen könntest? In seinem Klassenraum? Ob da irgendwas ist? Etwas, das uns Hinweise liefern könnte.«
Ich versuchte die darauffolgende Pause zu interpretieren. Würde er sich weigern?
»Sein Büro«, sagte er, »ist schon wieder neu besetzt. Wusstest du das? Da ist jetzt jemand anders drin, war ein sehr begehrter Raum. Tolle Fenster für den Kunstunterricht.«
Ich konnte verstehen, warum er gezögert hatte. Er hatte mir nicht vermitteln wollen, wie schnell Scotts Tod zur praktischen Verwaltungssache geworden war. Der Tod des einen ist des anderen helles Tageslicht.
»Ich denke, der Saal wurde ausgeräumt«, sagte er. »Aber ich gehe heute hin und sehe nach, da könnte durchaus noch was sein.«
»Danke, John. Ach, noch was«, sagte ich beiläufig, denn jetzt kam ich zum eigentlichen Grund meines Anrufs. »Ellie irgendwie? Das ist eine Frau, mit der ich gerne reden würde. Aber ich weiß nicht, wie sie weiter heißt. Sagt dir der Name was?«
Dieses Mal war die Pause undurchdringlich. Wusste er von Scott und ihr? Erriet er instinktiv, was ich gerade erst über die beiden erfahren hatte? Oder sagte ihm der Name einfach nur nichts? So langsam wie die Antwort schließlich kam, vermutete ich, dass sich außerirdische Materie in seinen Gedanken festgesetzt und die Zahnräder zum Stillstand gebracht hatte.
»Tja«, sagte er. »Ich weiß nicht. Ist kein ungewöhnlicher Name. Hier hat mal eine Frau gearbeitet, eine Ellie. Aber ich weiß nicht, ob du die meinst. Ist inzwischen auch gar nicht mehr da. Ellie Mabon. Meinst du Ellie Mabon?«
Das wusste ich nicht. Aber wenn man im Dunkeln schießt, sollte man sich lieber ansehen, was man getroffen hat. Vielleicht ist es ja das, worauf man es abgesehen hatte.
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Kann sein. Danke jedenfalls.«
»Schon gut«, sagte er schließlich, wobei er sich vielleicht fragte, wofür ich ihm dankte. »Ich kümmere mich um Scotts Klassenraum. Und rufe an, wenn ich was finde.«
»Ich werde heute unterwegs sein, John.«
»Wenn ich dich nicht persönlich erwische, schau ich einfach später im Bushfield vorbei. Irgendwann am Abend, okay? Ich muss los, mal sehen, ob die wilde Meute schon unruhig geworden ist. Wiedersehen.«
»Wiedersehen.«
Ich legte auf und suchte Katies Telefonbuch. Oben hörte ich jemanden herumgehen und stellte mir vor, wie Mike in dem Psychogefängnis, das er sich selbst gebaut hatte, auf und ab ging. Das Buch lag hinter dem Brotkasten. Typisch Katie. Wir waren gar nicht so verschieden wie sie glaubte.
Beim dritten Mabon fand ich eine Ellie. Der erste war nicht drangegangen. Der zweite klang nach einem unglaublich alten Mann, der mir unbedingt von einem Problem mit seinen Rohrleitungen im Haus erzählen wollte. Ich versprach schließlich, mich darum zu kümmern. Der dritte war eine gute Adresse in Graithnock. Die Stimme klang kurz angebunden mit einem interessanten Unterton, wie ein sinnlicher Körper im strengen Kostüm.
»Hallo?«
»Entschuldigen Sie die Störung, möglicherweise habe ich die falsche Nummer. Ich suche eine Ellie Mabon.«
»Am Apparat.«
Ich wusste sofort, dass sie’s war. Vorübergehend lähmte die Erkenntnis meine Sprechmuskeln. Sie wusste nicht, wie eng wir miteinander verbunden waren oder was ich über sie wusste.
»Hallo?«
»Entschuldigung«, sagte ich. »Mein Name ist Jack Laidlaw. Ich bin Scotts Bruder.«
Sie übte eine Weile lang atmen.
»Oh Gott«, sagte sie. »Eure Stimmen sind sich so ähnlich.«
»Sie haben Scott gekannt«, sagte ich. Nicht unbedingt eine meiner hellsten Bemerkungen.
»Na ja, wir haben nicht nur miteinander telefoniert, falls Sie das meinen.« Dann spürte ich, wie ihr bewusst wurde, dass sie zu schnell zu viel von sich preisgab. Als sie sich wieder zu Wort meldete, klang sie wie eine Frau, die sich gerade das Kleid zurechtzupft. »Wir haben an derselben Schule unterrichtet, vielleicht wissen Sie das.«
»Ja, das weiß ich. Können wir uns treffen und darüber reden?«
»Wie bitte?«
»Verzeihen Sie, das muss Ihnen seltsam vorkommen. Aber es fällt mir schwer, Scotts Tod zu akzeptieren. Ich bin noch dabei, es zu begreifen, und spreche mit Leuten, die ihn gekannt haben. Verstehen Sie? Ich dachte, vielleicht können wir uns unterhalten.«
»Da haben Sie recht«, sagte sie. »Das klingt wirklich seltsam.«
»Hab ich mir gedacht.«
»Was wollen Sie von mir hören?«
»Ich weiß nicht.«
»Also, wenn Sie es nicht wissen, ich weiß es auch nicht. In Ordnung?«
»Nicht so richtig«, sagte ich. »Kommen Sie, bitte. Das ist doch eigentlich halb so wild.«
»Wild? Hören Sie. Was mich betrifft, könnten Sie mit Ihrem Anliegen direkt aus dem Dschungel am Amazonas kommen. Warum kehren Sie nicht einfach dorthin zurück?«
Das Gespräch verlief nicht optimal. Ich hatte das Gefühl, dass mich nur noch Sekunden davon trennten, diesen Faden zu verlieren. Aber zwei Sachen waren mir aufgefallen: die Bemerkung, sie habe mit Scott nicht nur telefoniert, war ein codiertes Eingeständnis und das wusste sie. Wenn sie so entrüstet war, wie sie tat, wieso hatte sie noch nicht aufgelegt? Ihre Strategie bestand darin, mich aus ihrem Leben herauszuhalten. Das hatte ich begriffen. Ich konnte es sogar nachvollziehen. Aber ich durfte es mir nicht leisten, mich damit einverstanden zu erklären. Vielleicht brauchte ich etwas, das sie mir würde sagen können. Ihre Schwäche bestand darin, nicht aufzulegen, bevor sie sicher war, dass sie mich endgültig abgeschreckt hatte. Ich wusste, dass ich nur eine einzige Karte auszuspielen hatte.
»Sie wohnen in der Sycamore Road 28«, sagte ich und las die Adresse aus dem Telefonbuch ab. »Ich bin sicher, das finde ich.«
»Was? Hören Sie mal. Ich bin verheiratet.« Sie dachte darüber nach und verbesserte sich. »Glücklich verheiratet. Ich kann es nicht gebrauchen, dass Sie mein Leben durcheinanderbringen. Was soll mein Mann denken?«
»Wann kommt er nach Hause?«, fragte ich.
»Um halb sieben.« Sie hatte es gesagt, bevor ihr bewusst wurde, wie unverschämt die Frage war. Was sie nur noch wütender machte. »Was zum Teufel geht Sie das alles an?«
»Mrs Mabon«, sagte ich. »Ich will Ihr Leben nicht durcheinanderbringen. Was hätte ich davon? Ich will nur reden. Ich kann nachmittags kommen, niemand muss etwas davon mitbekommen.«
»Ich habe Nachbarn.«
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