Sie trank ihren Kaffee schwarz. Und sah mich unverwandt an. Mit ihrer Laune hatte sie sich den Morgen und die damit verbundenen Beschäftigungen abgeschminkt wie überschüssiges Make-up. Ich sah sie deutlich vor mir, vielleicht zum allerersten Mal. Sie wirkte nachdenklich, verständnisvoll und ein bisschen auch des ganzen Theaters überdrüssig. Wo sie gewesen war und was sie durchgemacht hatte, hatte sich auf ihrem Gesicht eingeschrieben, und die Spannung zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Weigerung, sich von dieser unterkriegen zu lassen, verlieh ihr Würde.
»So wie Mike«, sagte sie. »Wir können keine Kinder bekommen. Was heißt das? Das ist eine traurige Sache, mit der man zu leben lernt. Ein dunkler Ort im eigenen Kopf. Aber man kann drum herum für Helligkeit sorgen. Nur er nicht. Für ihn ist es ein göttlicher Fluch. Die Welt hat es scheinbar ganz besonders auf ihn abgesehen. Um ihm das Leben zu vermiesen. Wir hätten schon vor Jahren ein Kind adoptieren können. Aber er musste dagegen angehen, nach seinen eigenen Bedingungen. Um sich selbst zu beweisen. Und jetzt ist es zu spät.«
Ihre Worte öffneten sanft eine Tür. Dahinter verbarg sich der Muff toter Träume, ein Dachboden der gespenstischen Sehnsüchte, Kinderklamotten, die nie ein Kind tragen würde. Ich sah ihren Schmerz und den Mut, mit dem sie ihn ertrug. Ich dachte an Jan und verstand sie ein bisschen besser. Sie würde sich ersparen wollen, was Katie durchmachte. Und sie hatte recht.
»Mike«, sagte Katie. »Drama, Drama. Unterschiedliche Stücke.«
Mike rückte in meinen Blick, all die düstere Verkrampftheit in ihm. Er war ein Zwist mit der Welt, eine tosende Stille. Ich sah ihn als verbissenen Anklageführer gegen das Leben, der vergebens alles daransetzte, dass es die Kränkung zurücknahm, die es ihm zugefügt hatte. Aber ich konnte ihn verstehen.
»Komisch, Katie«, sagte ich. »Aber ich sehe es umgekehrt. Ich denke, oft sind es die Frauen, die Melodramen inszenieren. Nämlich dann, wenn sie Folgen über ihre Ursachen hinaus aufbauschen. Ich habe Frauen gekannt, die Opern sangen, wenn ihnen was angebrannt ist. Ich werde verrückt, weil mein Bruder tot ist. Nicht weil ein Knopf an meinem Hemd fehlt.«
Wir sahen einander über den Tisch wie über Niemandsland hinweg an, wahrten den Waffenstillstand.
»Aber ich liebe sie trotzdem«, sagte ich.
Katie lächelte, beugte sich rüber und berührte meine Hand. »Und ich kann euch auch meistens tolerieren«, sagte sie. »Frag ruhig.«
»Gab es andere Frauen? Für Scott.«
»Hat er es dir nicht gesagt?«
Ich dachte an das, was er mir in der Nacht in meiner Wohnung hatte sagen wollen.
»Ich glaube, vielleicht war er kurz davor gewesen. Aber ich weiß es nicht. Wir hatten ein bisschen den Kontakt verloren. Eine Zeit lang hätten wir auch auf unterschiedlichen Kontinenten leben können.«
»Es gab jemanden«, sagte sie.
Die Bedeutung ihrer Worte nahm vor meinen Augen Gestalt an, so solide wie die Tür zu der geheimnisvollen Kammer in Scotts Leben, die ich nie betreten hatte. Ich zögerte davor, selbst als sein Bruder. Ich wollte nicht in seiner Abwesenheit in seiner Intimsphäre her umschnüffeln. Aber etwas in mir war darauf angewiesen, dass sie sich öffnete. Nur Katie konnte das für mich bewerkstelligen, aber sie machte keinerlei Anstalten. Ich wartete. Sie wartete, trank ihren Kaffee. Hierfür gab es Regeln, das begriff ich. Man konnte nicht einfach so hereinplatzen. Zuerst musste man feierlich seinen Respekt erweisen, Katie leitete die Zeremonie.
»Ich glaube, ich war die Einzige, der er es erzählt hat«, sagte sie.
Sie starrte auf den Tisch, schloss ein letztes Mal ihr Geheimnis fest in die Arme, bevor sie es in die Welt entließ. Ich glaubte zu sehen, was es ihr bedeutet haben musste. Es ist immer ein Liebesbrief, wenn ein anderer einem erzählt, wer er wirklich ist. Man erlangt Bedeutung in dessen Leben. An Scotts Vertrauen gewachsen wollte Katie ihn nicht hintergehen. Sie musste sich selbst überreden, es mir zu verraten.
»Irgendwie hab ich ihn auch geliebt, weißt du?«, sagte sie. »Ich glaube, das haben viele. Dabei konnte er furchtbar nerven, dein Scott. Aber selbst wenn er es tat, merkte man immer, wie verletzlich er war. Vor ein paar Monaten hab ich mich schrecklich mit ihm zerstritten. Er war nicht er selbst. Zwei Wochen lang ist er nicht mehr hergekommen. Du hast keine Ahnung, wie mir das zugesetzt hat. Ich dachte, ein Teil meines Lebens ist weg. Als er dann wieder hereinspaziert kam, war das für mich wie Weihnachten. Das beste Geschenk aller Zeiten. Er konnte einen Tag heller strahlen lassen.«
Sie trank ihren Kaffee.
»Ellie hat sie geheißen«, sagte sie plötzlich. »Sie war Lehrerin, kinderlos. Mehr weiß ich nicht.«
»Hat sie mit ihm zusammen gearbeitet?«
»Jack.«
Sie machte eine lange, gedehnte Anschuldigung aus meinem Namen. Jetzt wo sie mich in ihr Heiligtum vorgelassen hatte, wollte sie verhindern, dass ich alles dort zertrampelte.
»Was glaubst du, was Scott gemacht hat, Jack? Mir Fotos gezeigt? Er hat sie vielleicht drei oder vier Mal erwähnt, in den frühen Morgenstunden. Hat immer nur von ›Ellie‹ gesprochen, keinen Nachnamen genannt. Und ich hab nicht nachgefragt. Ich weiß, dass sie ihm viel bedeutet hat. Und dass ihm die Schuldgefühle zugesetzt haben. Anscheinend war Schluss zwischen den beiden und ich habe ein bisschen mit ihm gelitten. Auf die Einzelheiten kam es nicht an. Er hatte Liebeskummer. Hätte ich da nach ihrer Telefonnummer fragen sollen? Seine Wunden mussten versorgt werden, das habe ich gemacht.«
»Aber wer war sie? Wo hat sie gewohnt?«
Kaum hatte ich es gesagt, wusste ich, dass ich die Tür zugeschlagen hatte. Sie starrte mich an, als wollte sie die Linse eines Mikroskops scharf stellen. Was haben wir hier für eine seltsame Kreatur? Mühsam unterdrückte sie ihre Verärgerung.
»Wieso gehst du nicht ins Krematorium und siebst die Asche durch?«
»Wenn ich glauben könnte, dass es hilft, würde ich das machen«, erwiderte ich.
Ich starrte durch die Linse zu ihr zurück. Welch seltsame Kreatur hält mich für eine seltsame Kreatur?
Sie stand auf, nahm ihre Tasse und meine, obwohl sie noch nicht leer war, ging zur Spüle und wusch beide aus. Dann machte sie mit der Suppe weiter. Mir kamen möglicherweise unwürdige Gedanken in Bezug auf Katie. Vielleicht waren ihre Gründe, nicht über die unbekannte Ellie zu sprechen, weniger nobel als sie vorgab. Vielleicht gehörte Eifersucht dazu. Auch Selbstgerechtigkeit hatte ich im Verdacht. Normalerweise ist dies eine kosmetische Art, die Wahrheit zu beschönigen, ähnlich einer gepuderten Perücke auf einem verlausten Kopf.
Katie hatte ihren Suppentopf zum Kochen gebracht und die Flamme kleiner gestellt.
»Buster«, sagte sie.
Buster erkannte seinen Namen. Er war wohl doch nicht so dumm, wie ich geglaubt hatte. Katie nahm die Leine, die an einem Haken an der Küchentür hing.
»Wenn das überkocht«, sagte sie, »drehst du’s bitte runter, ja? Ich geh mit Buster raus, damit er sein Geschäft verrichtet.« Als sie weg waren, dachte ich über die euphemistische Formulierung nach. Mein Vater hatte sich genauso ausgedrückt: »Geh mit Bacchus raus, damit er sein Geschäft verrichtet«. Oder Judie. Oder Rusty. Oder Tara. Wir hatten viele Hunde und ich hab sie immer gemocht, vorausgesetzt, sie litten nicht an Größenwahn und hielten sich für die wahren Hausherren. Die Formulierung erinnerte mich an meine Familie, an die Zeit, als wir noch zu viert zusammen wohnten. Ich dachte an die Möglichkeiten, die es damals zu geben schien, und wie sie seltsamerweise dazu geführt hatten, dass ich jetzt allein in der Küche des Bushfield Hotel saß. Die anderen drei waren tot. Ich war froh, dass meine Eltern Scotts Tod nicht hatten erleben müssen. Irgendwie fühlte ich mich für die anderen drei verantwortlich. Wir hatten versucht, eine Art ehrlichen Vertrag mit der Welt einzugehen, aber jetzt kam es mir vor, als hätte die Welt uns betrogen. Das Mindeste, was uns zustand, war rückblickendes Verstehen und ich war hergekommen, um es einzufordern.
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