1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 »Ich auch«, sagte ich. »Nicht, dass ich ihn in letzter Zeit so wahnsinnig oft gesehen hätte. Aber er war immer für mich da gewesen. Wie Geld auf der Bank. Und plötzlich kommt der Wall Street Crash. Ohne ihn fühle ich mich verarmt.«
»Er war jemand ganz Besonderes«, sagte John. »Die Schüler reden viel über ihn. Ich glaube, ein paar Mädchen aus der sechsten Klasse hatten sich wohl vorgestellt, ihn später zu heiraten.«
»Wir haben ihn und Anna oft gesehen«, sagte Mhairi. »Neuerdings nicht mehr so häufig zusammen. Aber dann ist er eben alleine gekommen.«
»Anna«, sagte ich. »Ich wollte sie heute besuchen. Das Haus steht zum Verkauf. Ging ganz schön schnell.«
Sie sahen einander an.
»Du weißt, wie schlimm es zwischen den beiden stand, als Scott gestorben ist?«, fragte John.
»Ich dachte, ich wüsste es. Aber vielleicht habe ich es drastisch unterschätzt. Keine Ahnung, wie’s dir bei der Beerdigung gegangen ist, John. Aber ich fand die Atmosphäre schwer erträglich. Ich weiß, dass Anna irgendwie auf ihre Art damit klarkommen muss, aber bitte, das ging zu weit.«
»Ich glaube, ich kann sie verstehen«, sagte Mhairi. »Ich weiß nicht, ob ich es genauso gemacht hätte. Aber vielleicht hätte ich auch gar nicht den Mut gehabt.«
Ich wartete.
»Eigentlich waren sie getrennt, als Scott starb. Sie haben noch im selben Haus gelebt, aber es war vorbei, ohne dass sie es sich eingestanden hätten. Anna muss ihn wohl beinahe gehasst haben. Ich denke, auf der Beerdigung wollte sie Heucheleien vermeiden. Anna kann sehr eigensinnig sein.«
»Scott auch, Mhairi«, sagte John. »Dazu hatte er aber eine Menge Charme. Wenn man allerdings an seiner Fassade kratzte, stieß man ganz schnell auf Granit.«
»Was, glaubt ihr, ist zwischen den beiden schiefgelaufen?«, fragte ich.
Sie lächelten und schüttelten die Köpfe.
»Ich weiß«, sagte ich. »Vergesst die Frage.«
»Nein«, sagte John. »Ich denke, so gut, wie wir sie gekannt haben, da hat es schon ein paar Hinweise gegeben. Aber wie will man sich da zum Schiedsrichter machen? Man erlebt sie nur hin und wieder außerhalb ihrer privatesten Sphäre und bekommt mit, dass jetzt ein anderes Spiel gespielt wird.«
»Das stimmt«, sagte Mhairi. »Weißt du, was mir aufgefallen ist? Es ist immer ein Zeichen, wenn ein Pärchen in der Öffentlichkeit überreagiert. Das Gespräch kommt auf ein bestimmtes Thema und beide übertreiben maßlos. Man begreift, dass es ihnen gar nicht darum geht, sondern um etwas ganz anderes. Der Anlass liefert nur den Vorwand für eine sehr viel tiefere Feindschaft. Wenn das passiert, steht es schlecht um die Beziehung, weil die Betreffenden aufgehört haben, das Problem lösen zu wollen. Sie verwenden das Thema nur noch als Treibstoff, um sich zu streiten.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte John. »Weißt du, wann mir das bei Scott und Anna aufgefallen ist? Weißt du noch, eine der ersten Gelegenheiten? Die Diskussion über die Privatschulen? Erinnerst du dich?«
Mhairi atmete aus und schüttelte den Kopf.
»Kann ich mich an den Vietnamkrieg erinnern? Das war schrecklich. Ich dachte, Scott würde handgreiflich werden.«
»Das hätte er nie gemacht. Aber weiter als er hätte man mit Worten auch nicht gehen können.«
»Privatschulen?«, fragte ich.
»Das war Annas Idee«, sagte Mhairi. »Sie wollte, dass David und Alan eine Privatschule besuchen. Das war an einem Abend hier, wir waren zu viert. Ich glaube, Anna hat das Thema absichtlich in Gesellschaft anderer angesprochen, um zu sehen, ob sie von unserer Seite aus Unterstützung bekommt.«
»Wohl kaum«, sagte John. »Ich lehre, wo ich lehre, weil ich dran glaube. Es geht nicht nur ums Geld. Auch wenn das helfen mag, so wenig es auch ist.«
»Oh, wir drei waren uns einig. Aber Anna hatte trotzdem das Recht auf eine eigene Meinung. Scott war außer sich. Als er fertig war, fing ich an zu glauben, ich sei vielleicht doch Annas Ansicht. Verzeih mir, aber so wie er sich an dem Abend benommen hat, war das wirklich nicht in Ordnung.«
»Keine Sorge«, sagte ich. »Das glaube ich dir. Liegt wohl in der Familie.«
»Als hätte sie versucht, den Sinn seines Lebens zu untergraben«, sagte John.
Catriona und Elspeth kamen wie Molotowcocktails ins Zimmer gerast und explodierten.
»Kommt schon, Mädchen«, sagte Mhairi matt.
Na schön, erwiderte Knut der Große: Weicht zurück ihr Wellen. Sie hatten sich ein anderes Spiel ausgedacht. Dieses war weniger kompliziert als das letzte und fiel in Sachen Raffinesse deutlich dagegen ab. Jetzt ging es ausschließlich um Dezibel.
»Naja, naja, naja, naja«, sagte Catriona. »Naja, naja, naja, naja, naja.«
»Najo, najo, najo«, ergänzte Elspeth. »Najo, najo, najo. Najo, najo, najo.«
Dabei war der Text noch besser als die Melodie. Mhairi nickte John zu.
»Sch!«, sagte John, wie ein Mann, der versucht, einen Waldbrand auszupusten. »Mhairi und ich dachten, wir beide könnten ins Pub gehen. Uns dort unterhalten.«
Mhairi lächelte mich an und nickte. Ich war ihnen dankbar, nicht nur weil uns der Ortswechsel Kommunikation ermöglichen würde, sondern weil ich die beiden mochte und mir nicht noch einmal vorstellen wollte, ihre Kinder zu erschießen.
»Sicher, dass du klarkommst, Liebes?«, fragte John.
Die Frage war berechtigt.
»Hab’s bis jetzt noch immer überlebt. Ich stecke die beiden ins Bett. Ihr bleibt doch nicht lange, oder?«
»Nein. Wir gehen ins Akimbo. Okay?«
John gab ihr und den Kindern jeweils einen Kuss. Ich bedankte mich bei Mhairi und winkte Catriona und Elspeth zu.
»Vielleicht sehen wir uns mal wieder unter weniger traurigen Umständen.«
»Das hoffe ich«, sagte ich. »Würde mich sehr freuen.«
UNTERWEGS MIT JOHN STRACHAN tauchte ich viel zu rasch aus den Tiefen meiner Beschäftigung mit Scotts Tod in einen gewöhnlichen Abend auf. Ich verspürte so etwas wie die psychische Entsprechung der Taucherkrankheit. Mit meiner Umgebung konnte ich nichts anfangen.
Ich kam mir hier fremd vor. Dennoch kannte ich die Stadt sehr gut. Fünf oder sechs Jahre hatte ich mit meiner Familie hier gelebt, als mein Vater – ein unverbesserlicher Träumer unerfüllter Träume–wieder einmal einen seiner vielen Neuanfänge gestartet hatte, der wie immer an der Begegnung mit der harten Realität gescheitert war. Aber heute Abend schien mir die Stadt unvertraut. Vielleicht betrachtete ich sie weniger als den Ort, an dem ich mich aufhielt, sondern als den, an dem Scott nicht mehr war, eine bebaute Fläche, die meinen Bruder ebenso mühelos und effektiv verschluckt hatte wie ein Ozean ein sinkendes Schiff.
Plötzlich wollte ich mich nicht mehr im Akimbo Arms, einem Pub, das ich nur flüchtig kannte, von Anonymität überrollen lassen. Ich brauchte einen Ort, an dem ich Scott stärker spürte.
»John«, sagte ich. »Was würdest du sagen, wenn wir nicht ins Akimbo gehen? Wir könnten meinen Wagen holen und zum Bushfield Hotel fahren. Ich brauche sowieso noch ein Zimmer für die Nacht.«
»Klar«, sagte er. »Ich gehe da auch hin und wieder mal einen trinken. Schon okay.«
Das Bushfield war ein umgebautes Privathaus. Hauptsächlich ein Pub, aber es gab auch noch an die zehn Gästezimmer. Katie und Mike Samson, denen es gehörte, hatten Scott gut gekannt. Ich war einige Male nach der Sperrstunde noch dort gewesen, hatte getrunken und gesungen. Die liebreizend füllige Katie war Scott sehr zugetan gewesen. Vielleicht hatte Mike ihn auch gemocht. Aber bei ihm konnte man sich nicht sicher sein. Er war groß und schlank und vermittelte manchmal den Eindruck, man bräuchte einen Elektrobohrer, um herauszubekommen, was in seinem Kopf vor sich ging. Zusammen waren sie Melodie und Oberstimme, Mike ergänzte Katies Lebensfreude durch eine gewisse schwermütige Unterströmung.
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