Wer war Anna? Ich war nie richtig dahintergekommen. Ich wusste, wie sie aussah, klein und zierlich mit einem lieben Gesicht. Seit ihrer Heirat mit Scott hatten sie und ich Höflichkeiten stets wie versiegelte Briefumschläge ausgetauscht. Wer wusste schon, welche Komplikationen darin steckten? Vielleicht würde ich es jetzt herausfinden.
Links sah ich Fenwick, wo Brian Harkness vor seiner Hochzeit mit Morag bei seinem Vater gelebt hatte. Ich war dem alten Herrn mehrfach begegnet. Und hatte ihn gemocht. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn zu besuchen, meinen Abstieg in was auch immer mich in Graithnock erwartete zu verschieben. Brians Vater und ich hatten einiges gemeinsam. Auch er hatte für Polizisten nicht viel übrig. Aber bis nach Graithnock waren es nur noch wenige Minuten – schon zu spät, um sich zu verstecken.
Ich fuhr durch die Einbahnstraßen, bis ich eine Telefonzelle entdeckte. Dann suchte ich einen Parkplatz, denn ich wollte mich noch vor meinem Gespräch mit Anna bei John Strachan melden. Er hatte mir bei der Beerdigung erzählt, er sei noch kurz vor Scotts Tod mit ihm zusammen gewesen. Ich denke, ich wollte mich gegen die Möglichkeit absichern, dass mir Anna einsilbig antwortete. Wenn sie mir wirklich nichts erzählen würde, konnte ich ihrem Schweigen trotzen und meine Reise hätte sich trotzdem gelohnt. Ich rief in Scotts Schule an.
»Guten Tag. Glebe Academy.«
Eine Schreibmaschine im Hintergrund und eine Stimme, die etwas sagte, das ich nicht hören konnte – die köstlichen Geräusche der Normalität, die für einen Zwangscharakter wie Süßigkeiten im Schaufenster sind und er wird zum kleinen Jungen, der nicht anders kann, als sie anzustarren, weil ihm das Geld für einen Einkauf fehlt.
»Glebe Academy. Ja?«
»Guten Tag. Kann ich bitte Mr Strachan sprechen?«
»Wer ist am Apparat, bitte?«
»Mein Name ist Laidlaw. Jack Laidlaw. Ich bin Scotts Bruder.«
Beinahe hätte ich gesagt: »Ich war Scotts Bruder.« Trauer ist häufig so wohlerzogen, dass sie sich selbst verknotet. Am anderen Ende vernahm ich eine Stille, die ich nicht verstand.
»Oh, Mr Laidlaw.« Dann sagte sie etwas, dass sich mir an die Brust heftete wie ein Anstecker. »Sie hatten einen wunderbaren Bruder, Mr Laidlaw. Wir vermissen ihn sehr, Schüler wie Lehrer.«
Mir gefiel nicht nur, was sie sagte, mir gefiel auch die Atemlosigkeit in ihrer Stimme, die Spontaneität, mit der sie es sagte und die Hürde ihrer eigenen Befangenheit überwand. Ihre Worte waren nicht einstudiert.
»Danke«, sagte ich.
»Ich hole Mr Strachan.«
Als er sich meldete, erkannte ich seine Stimme nicht und mir wurde bewusst, dass ich ihn vielleicht gar nicht wiedererkennen würde, wenn ich ihn traf.
»Hallo, Mr Laidlaw?«
»Mr Strachan. Entschuldigen Sie die Störung. Ich weiß, dass Sie sehr viel zu tun haben. Aber ich bin heute in Graithnock und habe mich gefragt, ob es möglich wäre, dass wir uns unterhalten? Über Scott. Ich würde es einfach gerne besser verstehen. Tut mir leid, dass ich Sie so überfalle, aber können wir uns vielleicht treffen? Wenn’s auch nur für eine halbe Stunde ist?«
Er zögerte kaum.
»Kommen Sie doch heute Abend zu mir«, sagte er.
»Sind Sie sicher?«
»Absolut. Sind Sie später noch da?«
»Auf jeden Fall.«
»Okay. Tut mir leid, dass ich keine Zeit mehr habe, Mhairi vorzuwarnen, sonst hätten Sie mit uns essen können. Aber kommen Sie danach, wenn das in Ordnung ist.«
»Das ist wunderbar.«
Er gab mir die Adresse. Ich war erleichtert. Zu Hause würde ich ihn auf jeden Fall erkennen.
»Sagen wir um sieben. Wollen hoffen, dass die Kinder bis dahin im Bett sind.«
»Ausgezeichnet. Bis später. Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Kein Problem. Scott ist es wert, sich über ihn zu unterhalten.«
Seine Worte und die der Sekretärin waren Balsam auf meiner Seele. Zwei Menschen stimmten mir in meinem Gefühl zu. Ich gehörte einem Kommando zur Bekämpfung der Gleichgültigkeit gegenüber Scotts Tod an. Jetzt war ich bereit, mit Anna zu sprechen, war mit größerer Autorität ausgestattet als nur meiner eigenen Manie. Ich kehrte zum Wagen zurück.
SCOTT UND ANNAS HAUS WAR DAS LETZTE in einer Reihe. Die Bäume auf der Straße ragten trotzig aus dem sich wölbenden Asphalt. Als ich zwischen zwei davon parkte, fiel mir gleich das Schild ins Auge. Es steckte im Sandsteinkies des Vorgartens. Darauf stand »zu verkaufen«.
Ich stieg aus, ging über den Weg zur Tür und klingelte. Man hörte schon dem Klingeln an, dass niemand darauf reagieren würde, es verhallte in der hohlen Stille. Es hatte etwas von einem Besuch im Mausoleum. Ich schaute durch das vorhanglose Wohnzimmer fenster. Der Raum war vollkommen ausgeräumt. Dort wo Scotts Gemälde gehangen hatten, waren die Wände heller.
In meiner Erinnerung hängte ich eines der Bilder wieder auf. Eine große Leinwand, die von einem gemalten Küchenfenster beherrscht wurde. Im Vordergrund auf dem Abtropfgitter standen Geschirr, Pfannen, Kochutensilien. Durch das Fenster sah man eine trostlose Stadt mit verwahrlosten Menschen, Kränen und Schornsteinen. Die Menschen wirkten wie Teile der Gebäude, wie von ihnen versklavt. Ich erinnere mich an ein Gesicht hinter dem geschlossenen Fenster eines Wohnblocks, das wie durch ein Gitter nach draußen blickte. Scott hatte mir erklärt, es solle ein Widerhall des Betrachters sein. Ich erinnere mich an das Gesicht eines Mannes, das im glühenden Licht seines Schweißbrenners zu zerfließen schien, als wollte er sich selbst einschmelzen. Das Ganze war mit großer naturalistischer Detailtreue gemalt, bis hin zu den erkennbar proletarischen Gesichtern unter den Mützen, aber insgesamt wirkte es wie eine Albtraumvision. Links vom Küchenfenster befand sich – wie ein ungenau eingefügter Maßstab auf einer wahnwitzigen Karte – ein kleines quadratisches Bild. Es war in Bonbonfarben angelegt und stand in lebhaftem Kontrast zur Szene draußen. Es zeigte ein idealisiertes Tal in den Highlands mit Heidepflanzen und einem Cottage, aus dessen Schornstein Rauch aufstieg. Ein Hirte und sein Hund gingen darauf zu. Scott hatte das Gemälde »Scotland« genannt.
Dann wurde es wieder zum hellen Fleck an der Wand. So einfach war es, eine so verbitterte Vision auszulöschen. Der Raum war der von irgendjemandem, niemandem. Selbst der Teppichboden war weg. Anna war immer schon sparsam gewesen.
Ich knirschte über den Kies und ging ums Haus herum. In der Mauer am Garten war eine Holztür. Sie war verschlossen. Ich setzte meinen Fuß auf den Türgriff, zog mich hoch und sprang auf der anderen Seite herunter. Hinten war nur ein kleiner Schuppen, eine Garage und ein kleines Stück Rasen. Gärtnern war keine von Scotts Leidenschaften gewesen.
Ich spazierte eine Weile umher, spähte durchs Küchenfenster. Alles leer und sauber. Anna war immer eine gute Hausfrau gewesen. Ich betrachtete den Rasen und erinnerte mich, an ein paar sonnigen Sonntagen mit Scott, Anna und Ena hier auf Decken gesessen zu haben. Die Kinder spielten um uns herum und wir tranken Bier. Unsere zerfaserten Gespräche hingen noch in der Luft. Unsere Pläne waren Staubpartikel, die die Sonne zum Vorschein bringt.
Die Tür zum Schuppen war nicht abgeschlossen. Ich sah hinein. Da standen ein alter rostiger Rasenmäher, ein Rechen, ein paar Holzlatten, eine kleine Tüte mit Ölfarben, fast alle Tuben restlos ausgedrückt. Das war’s schon?
Ich hatte das Gefühl, zufällig auf eine archäologische Ausgrabungsstätte gestoßen zu sein. Schon jetzt war kaum noch zu erraten, wer hier gelebt hatte, es sei denn, man bediente sich der Technik der Experten und schuf ein ausgeklügeltes Theoriegebäude auf Grundlage der einzigen Fakten, die dieses nicht stützten. Scotts Hinterlassenschaft war der Marktwert des Hauses und diese Handvoll Abfall hier.
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